„Ich denke oft an eine Person, die ich eigentlich nicht kenne, die aber gerade dabei ist, mein Leben zu zerstören.“
Die Frau, laut Isabelles Terminkalender eine Evelyn Mühl, sah aus dem Fenster, wo der kalte Novemberregen fiel. Sie war zum ersten Mal in ihrer Praxis und erweckte nicht den Eindruck, als fühle sie sich wohl. Isabelle betrachtete die Frau, die äußerlich nichts an sich hatte, was Isabelle besonders im Gedächtnis bleiben würde. Sie war Ende dreißig, trug ihre hellbraunen Haare in einem Pferdeschwanz und hatte an Bauch, Hüfte und Oberschenkeln ein paar Kilo zu viel. Ihre Hände presste sie zwischen ihre Oberschenkel und soweit Isabelle das erkennen konnte, war ihre ungeschminktes Gesicht starr und ausdrucklos.
„Inwiefern zerstört diese Person Ihr Leben?“
„Sie schläft mit meinem Lebensgefährten.“ Sie wandte ihren Kopf vom Fenster und richtete ihre Augen auf Isabelle. Der Blick daraus war hart, wie ein Schutzwall hinter dem sie ihre Emotionen verbarg. Isabelle wartete darauf, dass die Frau fortfuhr, doch sie starrte sie bloß an.
„Wie fühlen Sie sich damit?“
„Was würden Sie an meiner Stelle fühlen?“
Isabelle antwortete nie auf solche Fragen. Doch für einen Augenblick ließ sie zu, dass die Frage zu ihr durchdrang. Sie war erst seit ein paar Monaten mit Hannes zusammen, sie waren noch in der rosaroten Phase. Und doch überkam sie manchmal das Gefühl, er verheimlichte etwas vor ihr. Es war unvorstellbar, was sie fühlen würde, sollte er sie betrügen. Es wäre das Ende.
„Ich denke in so einer Situation empfinden viele Menschen Wut. Vielleicht auch Enttäuschung? Und Traurigkeit?“
Die Frau zuckte kaum merklich mit den Achseln. „Vielleicht. Aber vor allem bin ich ratlos.“
Isabelle wartete. Ihre Patienten wirkte noch immer kontrolliert. Sie musste all das schon länger mit sich herumschleppen.
„Was macht Sie ratlos?“
„Ich verstehe nicht, warum er das macht und ich weiß nicht, was ich tun soll. Wir sind seit mehr als zehn Jahren zusammen und natürlich sind die Dinge bei uns nicht mehr aufregend und gewisse Dinge fanden auch länger nicht mehr statt, aber … es war doch alles in Ordnung. Also wofür wirft er das weg?“
„Sie haben nie daran gedacht, ihn zu betrügen? Oder anders gesagt, Ihnen hat nichts gefehlt?“
Die Frau schüttelte mit dem Kopf. Sie sah auf den Teppichboden. „Mit Ende dreißig sind jahrelange Beziehungen eben so. Wieso hätte ich ihn betrügen sollen? Damit alles nochmal von vorne losgeht? Man kommt doch immer wieder an diesen Punkt an dem sich die Unterhaltungen mehr um die Essensplanung und andere Alltagsdinge drehen. Wir gehen uns auf die Nerven, wir schreiben uns nicht mehr während der Arbeit und streiten mehr, aber wir sind doch wir. Also nein, ich hatte nicht das Gefühl, dass uns etwas fehlt.“
„Was ist mit Romantik? Haben Sie das nie vermisst?“
Evelyn Mühl gab ein Schnauben von sich. Sie sah Isabelle direkt an, als sie sagte: „Es gibt Wichtigeres als das. Manche Frauen mögen ja in Hotels mit Blick auf den Eiffelturm absteigen wollen oder auf teuren Schmuck als Geschenk stehen, aber das war nie etwas für mich. Ich dachte, genau das mag er an mir.“
Isabelle schlug ihre Beine übereinander. Der Blick der Frau war ihr unbehaglich. Als sehe sie Isabelle an, dass sie sich von Hannes nach Paris hatte einladen lassen und verachte sie stellvertretend für die Affäre ihres Lebensgefährten.
„Denken Sie diese Dinge haben ihm gefehlt?“
Evelyn Mühl nestelte am Verschluss ihrer Handtasche herum. „Keine Ahnung, ob ihm so ein Unsinn gefehlt hat. Ich dachte wir hätten mehr als das. Darf man hier drin rauchen?“
Isabelle schüttelte ihren Kopf. „Tut mir leid.“
Die Frau ließ ihre Hände sinken. „Damit hatte er plötzlich auch ein Problem. Ich sollte nicht mehr in seinem Auto rauchen, damit seine Sachen nicht stinken. Am Anfang dachte ich, das ist nur eine Art Midlife-Crisis, aber dann ist er auf einmal wieder zum Sport gerannt und hat angefangen vegetarisch zu kochen und andere Bücher zu lesen.“
Isabelle bemerkte ihre Betonung auf vegetarisch. Hannes hatte auch gelacht, als Isabelle ihm gesagt hatte, sie ernähre sich fleischlos. Doch mittlerweile schien er gefallen an dieser Ernährung zu finden. Überhaupt war er jemand, der sie gerne überraschte. Nach dieser Sitzung, Isabelles letzter für heute, waren sie verabredet und er hatte ihr nicht verraten, was er vorhatte. Isabelle warf unauffällig einen Blick auf ihre Armbanduhr. Noch dreißig Minuten musste sie sich konzentrieren. Normalerweise fiel ihr das nicht schwer. Aber seit Hannes da war, kam sie sich immer häufiger wie ein verliebter Teenager vor.
„Was hat diese Veränderung in Ihnen ausgelöst?“
„Ich habe es nicht verstanden. Ich habe auch nicht verstanden, warum er plötzlich ständig so genervt war und wir andauernd gestritten haben und er nur noch am Handy hing und keine Lust hatte, etwas zu unternehmen. Aber was hätte ich schon denken sollen?“ Die Frau hob ihre Schultern und schien nun mehr zu sich selbst, als zu Isabelle zu sprechen. „Ich dachte, das geht vorbei. Ich hatte auch nicht die Zeit, mich so sehr damit zu beschäftigen. Ich dachte, er würde sich schon wieder einkriegen.“
„Aber jetzt glauben Sie, es ist keine Phase und er hat eine Affäre. Wieso?“
Evelyn Mühl starrte Isabelle wieder so undurchdringlich an. „Wir waren im August im Urlaub und da habe ich etwas auf seinem Handy gesehen. Er hing die ganze Zeit da dran. Mir ist erst da klargeworden, wie anders wir miteinander umgehen, glaube ich. Wir hatten uns nichts zu sagen. Er war in seiner Welt und ich in meiner, während wir am Strand lagen. Ich habe ihn gefragt, ob er eine andere hat und er hat irgendwie weder Ja noch Nein gesagt. Er ist mir ausgewichen.“
„Wenn Sie zugelassen haben, dass er Ihnen ausweicht, wollten Sie dann wirklich eine Antwort darauf?“
Ihre Patientin senkte die Augen. „Ich weiß es nicht. Ich habe ihm gesagt, er soll das mit uns nicht wegwerfen, weil ich dachte, ihm wird klar was wir haben. Wir sind seit über zehn Jahren zusammen, das lässt man doch nicht einfach sausen? Das muss man doch erstmal miteinander aushalten! Außerdem, er entscheidet doch ob er geht oder nicht. Was hätte ich schon tun sollen?“
„Sie wollten also kein offenes Gespräch mit ihm, um herauszufinden, woran Sie sind und ob Sie um Ihre Beziehung kämpfen wollen?“, fragte Isabelle. Auch ohne ihr Diplom hätte sie geahnt, dass die Frau die Wahrheit nicht hören wollte, aus Angst, daraus Konsequenzen ziehen zu müssen. Und obwohl sie so etwas ansonsten vermied wo sie nur konnte, fand sie sich ein wenig in Evelyn Mühl wieder. Hin und wieder, wenn Hannes nicht bei ihr war, verhielt er sich abwesend. Sie schob es auf die Kommunikation über das Handy und auf seinen anstrengenden Job und vermied es, mit ihren Fragen zu sehr zu bohren. Als hätte sie Angst etwas zutage zu fördern. Aber vielleicht würde sie ihn später mal darauf ansprechen. Noch knapp zwanzig Minuten.
„Ich wollte ihn nicht anflehen. Ich wollte einfach nur, dass es wieder so läuft wie früher. Ich habe gehofft, das wird von selbst wieder so aber als immer mehr und mehr Zeit vergangen ist, habe ich mich nur noch ohnmächtig gefühlt. Nichts was ich gesagt und getan habe, hat die Dinge zwischen uns geändert. Wir haben nur noch unsere Pflicht erfüllt, nichts anderes. Ich bin nicht mehr zu ihm durchgedrungen und ich wollte es auch nicht immer. Ich wollte es vergessen.“ Die Frau sah Isabelle an, als erwarte sie eine Antwort von ihr. Zum ersten Mal schien ihre Fassade zu bröckeln. Sie schluckte mehrmals und ihr Gesicht lag in Falten, die nach schmerzhaften Erinnerungen aussahen.
Isabelle schwieg. Mit der Zeit hatte sie ein gutes Gespür dafür bekommen, wann Menschen von sich aus reden wollten und wann sie einen Anstoß brauchten.
„Und dann kam der Tag, an dem ich sein Telefonat mit ihr belauscht habe. Es war Zufall, ich kam früher von der Arbeit, wie in so einer verdammten Fernsehserie. Ich habe mit angehört, wie er gesäuselt und geflirtet und etwas von Liebe gesagt hat. So hatten wir seit Jahren nicht mehr miteinander geredet. Vielleicht haben wir auch nie so geredet.“ Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt und sie schniefte, während sie auf ihre Füße starrte. Isabelle reichte ihr ein Taschentuch.
„Was haben Sie in dem Moment gefühlt?“
„Ich hatte einen Augenblick das Gefühl zusammenzubrechen. Aber was hätte ich tun sollen? Ihn rauswerfen? Ihn zur Rede stellen? Und dann? Ich habe nichts getan. Wir haben einfach weitergemacht, als hätte ich nichts gehört. Ich kann Ihnen auch nicht sagen, was ich genau dachte. Ich weiß nur, was ich nicht denken wollte. Also habe ich einfach gewartet, bis die Erinnerung daran langsam aufhört und es nicht mehr so wehtut.“
Isabelle hörte das nicht zum ersten Mal. Viele ihrer Patienten, egal in welcher Lebenslage mit egal welchem Problem konfrontiert, schienen auf diese Taktik zu setzen. Bisher hatte sie nicht wirklich verstanden, worin der Reiz in dieser Vermeidungsstrategie lag. Sie konnte sich nicht vorstellen, jemals selbst so durchs Leben zu gehen. Sie wartete, bis Evelyn Mühl sich mit dem Taschentuch über Augen und Nase gewischt hatte.
„Wieso haben Sie ihn nicht darauf angesprochen?“
Ein kurzes Schulterzucken. „Ich hatte ja auch noch andere Sachen zu tun. Vielleicht habe ich beschlossen, ihn seinen Spaß haben zu lassen. Keine Ahnung. Hätte ich die nächste zehnjährige Beziehung wegwerfen sollen? Das würde bedeuten, das alles vollkommen umsonst war. Der ganze Stress, die Streitereien, das Haus … alles was wir aufgebaut haben, wäre dann für die Katz. Außerdem würden alle wissen, dass wir versagt haben. Er muss doch dasselbe denken, oder? Sonst wäre er doch schon weg?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Denken Sie denn, es ist nur Sex?“
Evelyn Mühl drückte sich erneut das Taschentuch vor die Augen. „Am Anfang dachte ich das vielleicht. Ich dachte, wir wissen beide nicht, was wir wollen und tun sollen. Aber dann habe ich angefangen, ihm und ihr nachzuspionieren.“ Die Frau sah sie mit tränennassen Augen an, als erwarte sie eine Reaktion von Isabelle.
„Wieso haben Sie das getan?“
„Ich konnte nicht aufhören an diese Frau zu denken. Ich wollte wissen wer sie ist. Und was er an ihr findet. Sie weiß nicht, dass er vergeben ist.“ Ein kleines Lächeln hatte sich plötzlich auf ihrem Gesicht ausgebreitet. Sie grinste Isabelle beinahe an, mit nassen Augen. Irgendetwas an ihrem Blick ließ Isabel unwohl werden.
Sie löste ihre Beine und überschlug sie andersherum. Sie wartete darauf, dass die Frau fortfuhr, doch sie lächelte bloß seltsam. „Was haben Sie getan, dass Sie das vermuten?“
„Ich habe mir vor ein paar Wochen sein Handy geschnappt, nachdem er stundenlang daran hing und das Ding so dämlich angegrinst hat. Er dachte wohl, ich merke es beim Fernsehen nicht, aber es hat mich wahnsinnig gemacht. Stellen Sie sich vor, er hat seinen Code geändert und gedacht das hält mich auf. Als würde ich den Geburtstag seiner Mutter nicht kennen. Ich habe diese … verliebten Nachrichten gesehen. Er hat ihr erzählt, er wäre mit Kollegen bei einem wichtigen Geschäftsessen und könnte deshalb nicht den Abend mit ihr verbringen. Aber in Wahrheit waren wir an dem Abend mit meinen Eltern essen. Ich habe bestimmt fünf von solchen Ausreden im Chatverlauf gefunden. Was würden Sie denken, wenn Ihnen jemand sowas auftischt? Wie kann die Frau nicht misstrauisch sein?“
Isabelle spürte, wie sie zu blinzeln begann. Sie wollte ihr sagen, dass auch Hannes öfters abends noch geschäftliche Termine hatte und dass das noch lange kein Grund für Vermutungen war. Doch sie ahnte, dass sie das eher dem Teil von ihr erzählen wollte, der immer schmerzhaft zog, wenn Hannes absagte. Sie durfte nicht wieder so misstrauisch sein.
„Mich würde eher interessieren, was in Ihnen vorgegangen ist, als Sie diese Nachrichten und damit ja Ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt gesehen haben?“
Die Frau drückte das Taschentuch in ihrer Hand zusammen und zuckte kaum merklich mit den Schultern. „Ich habe das Handy weggelegt und versucht, das alles zu vergessen. Solange es nicht offen zur Sprache kommt, ist es irgendwie nicht real. Vielleicht gibt es ja einen Grund, warum er noch bei mir ist? Also habe ich einfach weitergemacht wie immer. Aber … dann habe ich zufällig gesehen, dass er im Schrank ein ganzes Fach verschlossen hat. Das hat mir einfach keine Ruhe gelassen, also habe ich seinen Schlüssel geklaut und hineingesehen.“
„Was haben Sie gefunden?“
„Einfach alles.“ Evelyn Mühl sah sie nicht an. Tränen sammelten sich erneut in ihren Augen. „All die Geschenke, die er von ihr bekommen hat, hat er dort vor mir versteckt. Ich hatte ein Glas Cola in der Hand. Ich habe es verschüttet, mitten auf seinen Pullover und einen Haufen Bücher, die sie ihm geschenkt hat. Sie muss gebildet sein und Geld haben … oder ihre Familie. Und doch ist sie nicht besser als ich. Sie wird schließlich auch von ihm beschissen.“ Obwohl Tränen aus ihren Augen liefen, schaffte sie es, schief zu lächeln.
Isabelle spürte, wie ihre Augenbrauen kurz zusammenzuckten. Die Reaktion der Frau verwirrte sie, doch sie wollte sie nicht unterbrechen.
„Ich war neugierig auf diese andere Frau, die keine Ahnung hat, dass ihre Geschenke eingeschlossen werden. Ich wollte sie sehen, etwas mehr über sie erfahren und Antworten finden. Also bin ich ihm ein paar Tage später gefolgt.“
Isabelle lehnte sich in ihrem Sessel zurück. „Sie sind Ihrem Lebensgefährten gefolgt, weil Sie neugierig auf seine Affäre waren?“
Evelyn Mühl nickte und schniefte. „Sie waren essen in einem Restaurant. Sie ist eine hübsche Frau. Hübscher als ich und etwas jünger. Er hat sie in einen teuren Laden ausgeführt und sich aufgeführt wie ein verliebter, kleiner Junge. Dann sind sie zu ihr gefahren und ich bin ihnen gefolgt und habe auf dem Klingelschild ihren Namen gelesen.“
Isabelle wollte einhaken, wollte erfahren, was dieser Anblick in ihr ausgelöst hatte, doch sie schien daran nicht rütteln zu wollen. Die Frau redete weiter.
„Ich habe sie gegoogelt, um mehr über sie zu erfahren. Ich glaube, ich wollte wissen, wer sie ist. Und ehrlich gesagt, würde ich ihr gerne mitteilen, dass ihr neuer Freund ihr etwas vormacht. Vielleicht verlässt sie ihn ja dann.“
„Würde das das Problem für Sie lösen?“ Isabelle hatte gelernt ihre eigenen Gedanken auch nicht durch ihre Tonlage oder Wortwahl widerzuspiegeln, doch es fiel ihr schwer.
„Das fände ich zumindest besser, als den Gedanken daran, dass er ihr nachher Jutta zeigen will.“
„Wer ist Jutta?“
Ihre Patientin winkte ab. „Das hat was mit seiner Mutter zu tun.“ Sie putzte sich die Nase.
Isabelle beugte sich vor. „Dann ist sie also die Person, die es nicht weiß, aber dennoch Ihr Leben zerstört? Die Affäre Ihres Lebensgefährten, die Sie genau wie ihn ausspionieren?“
Evelyn Mühl nickte und sah sie an. Sie hatte ihre Augen mittlerweile getrocknet. Auf Isabelles Uhr waren noch fünf Minuten übrig.
„Warum tun Sie das? Warum stellen Sie Ihren Lebensgefährten nicht einfach zur Rede? Dass Sie sich ständig streiten, zeigt doch, wie verletzt Sie sind. Ein Gespräch könnte Ihnen helfen. Und sei es nur, um herauszufinden, ob Sie an der Beziehung festhalten oder Sie beenden wollen.“
„Sie stellen es sich leicht vor, so ein Gespräch zu führen. Ich könnte damit alles verlieren.“
„Für mich klingt es, als haben Sie all das bereits verloren. Sie können nicht ignorieren was er tut, Sie können damit nicht leben. Aber Sie können auch nicht mehr zu dem zurück, was Sie vorher mit ihm hatten, wenn Sie es nicht ansprechen. Wenn Sie es ansprechen und er Ihre Beziehung beendet, dann wissen Sie wenigstens, woran Sie sind.“
Die Frau erwiderte ihren Blick. Sie schien ihre Emotionen wieder hinter einer unberührten Miene versteckt zu haben. Nur ihre geröteten Augen verrieten sie. „Können wir darüber nächste Woche sprechen?“
Als sich Isabelle eine knappe halbe Stunde später im Auto durch die proppenvolle Innenstadt kämpfte, hatte sie den Anblick und die Worte ihrer letzten Patientin noch nicht abgeschüttelt. Normalerweise fiel ihr das leichter, doch diese Mischung aus Verletzlichkeit, Ratlosigkeit und Sturheit, die sie ausgestrahlt hatte, ließ Isabelle nicht los. Sie konnte nicht verstehen, weshalb Evelyn Mühl ihren Partner nicht zur Rede stellte, nicht die Wahrheit wissen wollte. Wenn sie in ihrer Situation wäre, könnte sie diese quälende Unwissenheit wohl keine Sekunde ertragen.
Aber sie war nicht in ihrer Position. Hannes mochte zwar geheimniskrämerisch erscheinen, doch das schien seine Art zu sein. Er hatte ihr ja auch nicht gesagt, warum er sich mit ihr am Hafen treffen wollte, an diesem kalten Novemberabend, an dem es in Strömen regnete. Sie hatten sich fünf Tage nicht sehen können, da er auf einer Geschäftsreise gewesen war. Hannes war Unternehmensberater und ein absolutes Arbeitstier. Doch er hatte schon angekündigt, dass er demnächst beruflich zurückstecken würde, damit sie mehr Zeit miteinander verbringen konnten.
Lächelnd fuhr Isabelle auf den Parkplatz des Hafens. Keine zwanzig Meter vor ihr begann die heute aufgepeitschte See, auf der private Boote an ihren Liegeplätzen vertaut waren. Doch erst als sie eine SMS von Hannes bekam, in der er ihr schrieb, sie solle zu Platz vierunddreißig kommen, wurde ihr bewusst, dass er ihr womöglich sein Boot zeigen wollte. Isabelle stieg aus und zog sich die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis ihre Finger klamm wurden und froren, als sie am Ufer entlanghastete und auf die Nummern auf den rutschigen Holzplanken schaute.
„Guck hoch, hier bin ich!“, rief plötzlich eine vertraute Stimme über das Prasseln des Regens.
Hannes stand in gelber Regenjacke und gelben Gummistiefeln auf den nassen Holzplanken und grinste sie breit an. Er war ein großer Mann mit dunklen Haaren und einem kurzen Bart, der sie mit einem Kuss begrüßte und in eine nasse Umarmung zog, kaum dass sie nah genug gekommen war.
„Na du hast ja gute Laune bei diesem Sauwetter“, meinte sie und nahm seine Hand. So anstrengend und verwirrend dieser Tag auch mit ihrer letzten Patientin gewesen war, sobald sie Hannes sah, war in letzter Zeit alles wieder gut. Sie wusste es besser und doch ließ er sie glauben, dass diese frischen Gefühle ewig bleiben und niemals zur Gewohnheit werden würden.
„Das ist kein Sauwetter, es ist romantisches Wetter für eine Übernachtung auf Jutta.“ Freudestrahlend deutete er auf ein kleines Boot direkt am Liegeplatz vor dem sie standen. Es war weiß und schaukelte ein wenig auf der stürmischen See.
„Ähm … Jutta?“ Irgendetwas klingelte bei diesem Namen in ihr. Doch sie kam nicht darauf.
„Ja, so heißt das Boot. Ich habe es von meiner Mutter geerbt und die letzten Monate restauriert, um dich zu überraschen. Wir schlafen unter Deck, ich habe schon alles vorbereitet.“
Isabelle wusste es wieder. Sie drehte sich zu Hannes, um ihm zu erzählen, was für ein lustiger Zufall es war, dass ihre letzte Patientin davon gesprochen hatte, ihr Lebensgefährte wolle seiner Affäre eine Jutta zeigen, die etwas mit seiner Mutter zu tun hatte, als ihr das Lächeln auf den Lippen gefror. Die Worte verendeten irgendwo in ihrer Kehle.
Hannes lachte. „Jetzt sieh es dir doch erstmal an. Und keine Sorge, bei dem Wetter fahren wir natürlich nicht raus. Aber vielleicht morgen? Du wolltest doch etwas Besonderes am Wochenende machen.“ Ohne sie zu Wort kommen zu lassen, packte er sie am Arm und zog sie über die triefenden Planken zum Boot. Isabelle bekam kaum mit, was er ihr zu dem Boot sagte und wie er ihr an Board half. Sie fühlte sich dumpf und taub. An der Seite, auf dem weißen Lack, prangte in großen, roten Buchstaben der Name Jutta. Während Hannes sie durch das Boot führte, ihr das Steuer zeigte und sie schließlich eine schmale Treppe nach unten lotste, sah sie immer wieder das seltsame Grinsen ihrer letzten Patientin vor sich. Ihr Lebensgefährte hatte eine Affäre mit einer Frau, die nicht wusste, dass er vergeben war. Die genauso beschissen wurde. Ihr wurde schwindlig.
„Ist alles in Ordnung? Gefällt es dir nicht?“
Es war als würde sie aus einer Trance erwachen, als Hannes‘ Stimme wieder zu ihr durchdrang. Sie standen unter dem Deck in einem sehr schmalen Raum, vor etwas, das wohl ein Doppelbett sein sollte. Sie hörte das Prasseln des Regens, doch es klang weiter weg. Es war beinahe still. Sie nahm ihren Blick von dem Bett und zwang sich, Hannes anzusehen. Er schaute mit leicht besorgter Miene zu ihr, in seinen Grübchen steckte das Lächeln, das sie seit so vielen Monaten zu sehen liebte. Und dennoch erschien er ihr plötzlich fremd.
„Ja. Doch. Mir ist nur kalt.“ Es konnte nicht sein. Evelyn Mühl, ihre letzte Patientin konnte nicht Hannes‘ Partnerin sein.
„Mir auch. Warte, ich gebe dir eine Decke.“ Er reichte ihr eine grüne Wolldecke, die am Fußende des Bettes gelegen hatte und legte sie ihr um die Schultern. Dabei fiel ihr auf, dass seine Regenjacke offen war. Er trug den Wollpullover, den sie ihm geschenkt hatte und auf der Brust prangte gut sichtbar ein brauner Fleck.
„Was … Was ist denn da passiert?“, würgte sie hervor.
„Oh … Das muss beim Waschen passiert sein. Irgendwas hat abgefärbt. Ich weiß es nicht. Aber ich kriege den noch raus.“ Er sah sie nicht an, während er sprach. Sie schloss ihre Augen, just in dem Moment, in dem er ihr einen Kuss auf die Stirn drückte.
„Ich mache dir mal einen Tee und serviere unser Abendessen.“
Isabelle wurde übel. „Ich geh nochmal kurz an die frische Luft.“
Erst jetzt fiel Isabelle das Schaukeln des Bodens auf. Aber vielleicht lag das auch an ihrem unsicheren Gang. Sie erklomm die Treppe und erreichte das Deck gerade noch rechtzeitig, bevor sie erstickte. Der Regen schlug auf sie nieder und doch sog sie gierig die kalte Luft ein. Es war unmöglich. Hannes konnte doch keine Freundin haben. Aber als ihr Gehirn alles noch einmal durchging, kam sie nicht umhin zu denken, dass Evelyn Mühl Hannes beschrieben hatte. Er kochte vegetarisch, er war andauernd auf Geschäftsreise, sie waren in Paris gewesen mit Blick auf den Eiffelturm. Die Flecken auf dem Pullover. Jutta. Isabelle kämpfte gegen den Drang an sich zu übergeben. Sie musste sich irren. Sie würde dieser Frau nächste Woche auf den Zahn fühlen.
An der Reling stehend hob sie ihren Blick und sah plötzlich einen Jeep mit erleuchteten Scheinwerfern am Rande des Parkplatzes stehen. Die Scheinwerfer waren direkt auf sie gerichtet, doch aus der Entfernung und hinter den rasenden Scheibenwischern konnte Isabelle nicht erkennen, wer am Steuer saß. Es mochte nichts mit ihr zu tun haben und dennoch glaubte Isabelle genau zu wissen, wer dort saß und sie aus der Ferne anstarrte. Diese Frau spielte ein perfides Spiel mit ihr.
„Kommst du? Das Essen ist fertig. Und dann startet unser romantisches Liebeswochenende! Ich habe mir komplett freigenommen für dich!“, rief Hannes hinter ihr aus der Kombüse.
Isabelle schluckte. Die Decke lag durchnässt und schwer auf ihren Schultern. Sie wünschte sich jedes Wort ihrer letzten Patientin zu vergessen. Sie hatte es nie wissen wollen.
„Ja, ich komme.“
Sie drehte sich um und ging zu Hannes.
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Uschi (Mittwoch, 01 Januar 2020 19:06)
Wie klein die Welt ist und wie das Leben manchmal so spielt... spannende Geschichte und aufregend geschrieben.
Vor allem das Ende gibt einen nochmal nachdenkliche Minuten wie gesteuert Menschen sein können.