Acht Stunden bis zur Bescherung
Das Poltern auf der Treppe klang nach dem Weihnachtsmann. Doch es war ein anderer dicker, grauhaariger Mann.
„Na du Schlafmütze? Es ist Heiligabend!“ Das Licht ging an und Schritte trampelten ins Zimmer. Lars war noch zu benommen vom Schlaf, um die Augen richtig aufzubekommen, geschweige denn zu reden. Er grummelte nur, während die Schranktüren aufgerissen wurden.
„Schatz, bringst du mir bitte meinen Weihnachtsschal mit?“, drang eine kratzige Stimme mit kalter Luft durch die offene Zimmertür.
„Heike, sagst du Wolfgang, dass er die Mütze von der Kleinen mitbringen soll? Die ist auch im Schrank.“
„Mach ich!“, brüllte Wolfgang. Es war wie durch eine Ohrfeige geweckt zu werden, oder sich den Zeh zu stoßen: Lars konnte nur wütend werden. Er wusste genau, dass Wolfgang nicht so schreien musste. Die Zimmertür stand offen und direkt dahinter führte die Treppe schon nach oben ins Erdgeschoss, wo seine Schwester mit Sicherheit am Absatz stand.
„Nein, Daniela, ich habe ihr schon eine Mütze aufgesetzt. Ich habe ihr eine mit Bendeln gekauft, die man unter dem Kinn verknoten kann. Dann bleiben die Ohren besser warm.“
Am oberen Ende der Treppe herrschte Stille, während Wolfgang noch immer im Schrank nach dem Schal suchte, als würde der Schal vor ihm weglaufen und dabei so viel Krach machen, wie ein Heavy Metal Konzert.
„Ist das in Ordnung? Ich möchte jetzt an Weihnachten keine schlechte Stimmung machen.“
Am liebsten hätte Lars Heike angebrüllt, dass seine Schwester natürlich damit ein Problem hatte, weil sie ja schon braune Flecken auf einer Banane und langsame Kellner als persönliche Beleidigung empfand.
„Okay“, kam es von oben und Schritte wie ein Erdbeben waren zu vernehmen, ehe die Küchentür ein klein wenig zu laut ins Schloss fiel.
„Oh je. Das wollte ich jetzt nicht.“
Als Lars mühsam seine Augen aufschlug, sah er Heikes bedröppeltes Gesicht im Türrahmen. Sie beherrschte diesen Ausdruck wirklich gut. Niemand würde je darauf kommen, was sich dahinter verbarg. Sie hätte eine gute Schauspielerin abgegeben. Gähnend beobachtete er, wie Wolfgang seiner Frau ihren Schal reichte, die Schranktüren klappernd zuwarf und sich dann umdrehte.
„Wir fahren jetzt erstmal den Baum holen. Dann kann unser zukünftiger Oscargewinner noch für seine Rolle als Faultier üben.“ Er lachte, als wäre es tatsächlich ein Witz gewesen und nicht seine Überzeugung, dass Lars ein Nichtsnutz war und das Schauspieler nannte.
„Bis später, Mr. Clooney.“ Damit erlischte die Zimmerlampe und die Schwiegereltern seiner Schwester stapften die knarzenden Treppen hoch. Lars hörte ihre Schritte und Stimmen über ihm, bis die Haustür ins Schloss fiel. In der Auffahrt startete ein Wagen. Die beiden würden mit Sicherheit den größten Baum fällen, der mit seinem Grün, seinem Duft und seinen Nadeln angab. So langsam fragte er sich, warum er sich so einen Heiligabend antat. Doch die Versuchung, die Bescherung zu seiner eigenen zu machen und genüsslich zu beobachten, was unter dem Geschenkpapier zum Vorschein kam, war jetzt schon riesengroß.
Lars stand auf und erklomm die Treppe. Er hatte seit Wochen vor ein vernünftiges Gespräch mit seiner Schwester zu führen, doch sie schien dauerhaft diese Version von sich zu sein, bei der sie ihre Nase so hochtrug, dass sie Gefahr lief, am Türrahmen hängen zu bleiben. Und diese Version seiner Schwester sollte ruhig ins offene Messer laufen.
„Halt den Mund! Das Thema haben wir hundertmal durchgekaut und ich habe dir gesagt, du sollst mit ihr reden! Sie ist meine Tochter und ich weiß, wie ich sie zu erziehen habe.“ Das bösartige Zischen seiner Schwester, ließ ihn wie angewurzelt stehen bleiben. „Wie oft muss ich dir solche Dinge denn sagen? Du hörst deinen Mandanten doch auch zu! Wenn ich so schlecht zuhören würde wie du …“
„Soll ich jetzt an Heiligabend Streit mit meiner Mutter anfangen?“
Um die leise Stimme ihres Mannes zu vernehmen, musste Lars noch zwei Schritte auf die geschlossene Tür zu machen.
„Ich will einfach nur, dass du dich einmal gegen sie durchsetzt! Es geht mir doch auch um deine Würde! Du kannst dich doch von ihr nicht so überrollen lassen. Aber du lässt jedes Mal zu, dass sie unsere Pläne über den Haufen wirft! Das ist anstrengend.“
Lars schüttelte den Kopf. Diese Logik konnte auch nur den unangeschlossenen Gehirnwindungen seiner Schwester entspringen. Ihrem Mann erst den Mund zu verbieten und ihm dann zu sagen, er solle seine Würde gegenüber seiner Mutter verteidigen. Er gab ein lautes Gähnen von sich, um sich anzukündigen und öffnete dann die Küchentür.
Seine Schwester, am Tisch stehend, neben ihrem Mann, der gerade seine Kaffeetasse auffüllte, brauchte nur einen Sekundenbruchteil, um ihre griesgrämige Miene in ein falsches Lächeln zu ändern. „Guten Morgen. Na hast du gut geschlafen?“
Sie sah abgespannt und alt aus, obwohl sie zwei Jahre jünger war als Lars und er doch derjenige mit den Zukunftsängsten sein sollte. Und während er von dem Rollkommando erzählte, das eben den Schrank mit einem Durchsuchungsbefehl heimgesucht hatte, fragte er sich, wie lange das schon so ging, dass seine Schwester ihm gegenüber eine Maske trug und wieso das eigentlich so war. Doch auf letzteres hatte er die Antwort womöglich schon gefunden. Seine Schwester gab ihr stockendes Lachen von sich, das mit einem hohen Ton anfing und dann in sich wiederholenden länger gehaltenen Tönen auslief und so unnatürlich klang wie das Wahlversprechen eines Politikers.
Lars nahm gegenüber von seinem Schwager Platz, der sein beschämtes Gesicht hinter der Zeitung verbarg. Seine Hand zitterte, als er den Kaffee umrührte. Lars hätte das bereits früher auffallen müssen. Immerhin kannte er diese Anzeichen doch von einigen seiner Schauspielkollegen.
„Schmeckt der Kaffee?“
„Besser als der, für den du Werbung machst.“
Lars war diese Witze gewöhnt, seit er für den Werbespot gecastet worden war. Die Macher hatten sich überlegt, die Clooney Kaffeewerbung nachzustellen mit ihm als Clooney-Verschnitt. Es war keine ernstzunehmende schauspielerische Leistung gewesen, nicht so wie die, die sein Schwager bot. Das Weichei steckte sein Gesicht weiterhin in die Zeitung und doch war ihm anzusehen, wie es hinter seiner Stirn ratterte, wie er irgendeine schlagfertige Erwiderung suchte, die er seiner Frau entgegen schleudern konnte. Er war ein hilflos an Land zappelnder Fisch.
„Warum bist du Weihnachten jetzt nicht bei Mama und Papa?“, fragte Daniela und setzte sich zu ihnen an den Tisch.
„Die beiden machen über Weihnachten eine Kreuzfahrt.“
„Was? Wieso weiß ich davon nichts?“
„Du hättest sie vielleicht mal anrufen sollen.“
„Fang jetzt bloß nicht so an. Ich habe hier eine Familie zu managen. Die beiden könnten mich ja auch mal anrufen! Sie haben es gerade so geschafft, am Geburtstag der Kleinen …“
Ein Handyklingeln unterbrach die Tirade seiner Schwester. „Hallo Tina“, nahm ihr Mann das Gespräch entgegen. Lars‘ Augen zuckten nach oben, während Daniela ihr Gesicht theatralisch in ihre Hand legte.
„Ich sitze gerade beim Frühstück mit Daniela und ihrem Bruder. … Ja, Lars ist hier. … Er feiert Weihnachten heute mit uns. … Aber wieso denn? … Wenn du meinst. Sie will dich sprechen.“ Er reichte Lars sein Handy und schien ein wenig verwirrt zu sein, dass seine Schwester seinen Schwager sprechen wollte.
„Was hast du vor?“, raunte Tina, sobald Lars sich gemeldet hatte.
„Ja, ich habe natürlich schon alle Geschenke. Ich habe auch eines für dich. Und du?“
„Lass diesen Quatsch! Ich schwöre dir, wenn du irgendein Wort von dem sagst, was ich dir erzählt habe, dann schubs ich dich in den Baum und erdrossele dich mit dem scheiß Lametta!“
„Ich finde, das ist eine super Idee, wenn du schon heute Nachmittag zum Baumschmücken kommst.“
„Was? Ich werde doch nicht …“
„Bis später.“ Lars beendete das Gespräch und reichte seinem verdutzt dreinblickenden Schwager sein Handy. „Deine Schwester kommt schon heute Nachmittag zum Kaffeetrinken und Baumschmücken.“
„Und wieso sagt sie das dir?“
Daniela erhob sich und stapfte Richtung Küchentür. „Schatzi, kommst du bitte kurz mit?“
„Ich denke, du solltest ihr folgen. Wenn sie so klingt, ist sie meistens böse.“
Nach einem letzten, misstrauischen Blick auf Lars, erhob sich Schatzi und folgte der Familienmanagerin aus dem Raum.
Drei Stunden bis zur Bescherung
„Schatzi, kommst du jetzt?“ Die Stimme seiner Schwester hatte diese schrille Tonlage erreicht, die verdeutlichen sollte, dass sie es ernst meinte. Sie war ein schussbereiter Kampfjet. Und ihr Mann war kurz davor, versenkt zu werden.
Der Weihnachtsbaum stand bereits halb geschmückt im Wohnzimmer. Heike und Wolfgang hatten einen Baum gewählt, der bis zur Spitze in Pestiziden stand und sich nun brav behängen ließ. Während Wolfgang die Kugeln auswählte, trug Heike Lars‘ Nichte auf dem Arm um den Baum herum und erklärte ihr, wie es sein konnte, dass das Christkind die Geschenke später darunterlegen würde. Das Christkind wiederum war der Grund für Danielas Gesichtsfarbe. Immerhin würde der Weihnachtsmann die Geschenke dort platzieren, wenn er denn existieren würde. Denn das tat er ja nicht und das hatte sie ihrer Tochter bereits erklärt, doch dann war Heike dem weinenden Mädchen zur Hilfe gekommen und hatte ihr erklärt, dass im Gegensatz zu all ihren Freunden, die vom Weihnachtsmann Besuch bekamen, sie vom Christkind beschert wurde.
Lars konnte verstehen, dass sein Schwager beschlossen hatte oben im ersten Stock zu arbeiten, aber wenn Daniela gleich sein Zimmer stürmen würde, wie eine amerikanische Eliteeinheit, würde sie ihren Mann wohl nicht bei der Arbeit am Schreibtisch vorfinden.
„Lars, planst du gerade deinen nächsten Werbespot oder könntest du mir mal die Kugeln reichen?“
„Du weißt ja, wie wir Arbeitslosen sind“, erwiderte Lars, ehe er Wolfgang die Box reichte. Ein kurzes, verräterisches Zucken seiner Augenbrauen huschte durch Wolfgangs Gesicht, ehe es an der Tür klingelte und er sich umdrehte.
„Ich geh schon.“ Lars trabte in Richtung Haustür. In seinem Rücken hörte er seine Nichte fragen: „Ist das Christkind ein Angestellter von dem Weihnachtsmann?“ Woraufhin seine Schwester die Treppe hinaufbrüllte: „Schatzi!“
Er musste sich ein Grinsen verkneifen, als er die Tür öffnete.
„Spar dir dein dummes Grinsen! Ich finde das überhaupt nicht witzig!“ Tina stand vor ihm, in eine klatschnasse Regenjacke gehüllt und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, zum Schutz vor dem in Strömen fallenden Regen.
„Ich freu mich auch dich zu sehen.“ Lars trat beiseite und ging ihr voraus zurück ins Wohnzimmer, aus dem seine Schwester mittlerweile verschwunden war.
„Ach Tinchen, da bist du ja. Willst du deiner Nichte nicht Hallo sagen?“
„Oder du hilfst mir beim Baumschmücken.“
„Ich mache mit Lars erstmal Kaffee“, entgegnete Tina ihren Eltern und schob ihn weg von dem werdenden Weihnachtsbaum, dem Landeplatz des Christkindes, in die Küche hinein. Sie schloss die Tür, um das überraschte Schweigen ihrer Eltern auszuschließen.
„Willst du den beiden unbedingt auf die Nase binden, was zwischen uns war?“
„Wehe, du hast das vor, was ich denke!“ Tina fuchtelte mit ihrem Zeigefinger vor Lars‘ Nase herum und drängte ihn gegen den Esstisch. Sie mochte klein und zierlich sein, doch die Wut stand in ihren roten Wangen geschrieben.
„Was soll ich denn vorhaben?“ Lars setzte sich auf die Kante des Tisches, konnte sich ein Lächeln aber nicht verkneifen. Daniela fand wahrscheinlich jetzt gerade ihren Mann schlafend in seinem Arbeitszimmer vor.
„Du willst doch nur allen Weihnachten versauen und das rausposaunen, was ich dir an Halloween im Suff erzählt habe.“
„Du meinst am Morgen nach Halloween, als du in meinem Bett aufgewacht bist?“
Tina rollte mit den Augen. „Werde erwachsen. Wir waren beide betrunken und sonst ist nichts denkwürdiges gewesen.“
„Außer, dass du mich in die Geheimnisse deiner Familie eingeweiht hast.“
„Ich habe dich nicht in Geheimnisse eingeweiht“, zischte Tina.
„Ach nein? Also dass dein Vater seinen Job verloren hat und deine Eltern euch das nicht erzählt haben, ist kein Geheimnis?“
„Jetzt sei doch nicht so laut!“ Sie hielt ihm den Mund zu. „Es gibt eben Dinge, die man in einer Familie nicht offen bespricht und die gehen dich schon gar nichts an!“
Lars befreite sich mit einer Kopfbewegung von seinem Maulkorb. „Weißt du, wenn du offen mit deinen Eltern besprechen würdest, was zwischen uns passiert ist, würden sie vielleicht aufhören Witze über meine Werbespots zu machen und anfangen sich für meine richtige schauspielerische Arbeit zu interessieren. In der Hoffnung etwas anderes als einen Verlierer in mir zu sehen, denn ich könnte dich ja damit angesteckt haben.“
„Verdammt Lars, was willst du denn? Ja, meine Familie ist ein bisschen schwierig, genau wie deine Schwester. Und es ist für uns alle das Beste, wenn wir an Weihnachten so tun, als würden wir auf den Schein reinfallen. Also wehe, du …“
„Entschuldige mich, ich muss noch das Geschenk für meine Schwester fertig machen. Es ist die Anmeldung in diesem katholischen Kindergarten, die deine Mutter hinter ihrem Rücken für die Kleine gemacht hat.“
„Was?“
Die Küchentür ging auf und Wolfgang kam herein. Sein Blick war argwöhnisch auf seine Tochter und Lars gerichtet, die sich mitten in der Küche gegenüberstanden, wie zwei Löwen kurz vor dem Kampf. „Ist der Kaffee schon fertig?“
Tina fuhr sich durch ihre Haare, ihre Wangen glühten. „Nein, Papa, wir wollten gerade anfangen.“
„Ah. Ja, dann solltet ihr vielleicht damit anfangen, die Kaffeemaschine einzuschalten.“ Er deutete auf das silberne Gerät neben der Spüle.
„Ja.“ Tina setzte sich in Bewegung, während trampelnde Schritte seine Schwester ankündigten.
„Er schläft oben. Wir brauchen eine Tasse weniger“, wehte sie in die Küche.
„Na dann lass ihn schlafen. Er hat dieses Jahr wirklich viel gearbeitet. Gerade der letzte Prozess hat ihn geschlaucht.“ Wolfgang sah Daniela nicht an, während er sprach. Viel mehr beäugte er seine Tochter, die an der Kaffeemaschine herumwerkelte.
Lars blickte seiner Schwester ins Gesicht, auf der Suche nach etwas, das er wiedererkannte. Aber in ihrer Miene war nichts.
„Ich gehe mal nach unten, die restlichen Geschenke einpacken.“ Doch niemand nahm Notiz von ihm, als Lars aus der Küche stapfte, da Daniela begann Tina zu erklären, wie sie den Knopf an der Maschine richtig zu drücken hatte.
Bescherung
„Schatz, jetzt hol doch bitte mal den Sekt.“ Das Lächeln seiner Schwester war gleichzeitig so strahlend und so zerbrechlich, als wäre es aus Porzellan. Und ihre Stimme so angespannt wie eine Gitarrensaite. Sie hatten sich alle ihrem Regime untergeordnet. Die Kerzen brannten, alle am runden, blank polierten Esstisch trugen Abendkleidung und lächelten glücklich zu der Weihnachtsmusik, die leise im Hintergrund dudelte.
„Ja.“ Er erhob sich träge, um zum Kühlschrank zu stapfen. Er war blass, farbloser als sein weißes Hemd.
„Machen wir doch schon mal die Geschenke der Kleinen auf, sie ist doch schon ganz müde“, meinte Heike, die ihre Enkelin fütterte.
„Gleich. Ich möchte erst noch ein Bild von uns allen mit den Geschenken vor uns machen“, erwiderte Daniela und ihr Blick folgte ungeduldig ihrem Ehemann, der es geschafft hatte, den Kühlschrank zu öffnen.
„Was ist das denn für eine Weihnachts-CD?“, fragte Tina und lauschte einem ungewöhnlich klingenden Chor.
„Was war eigentlich vorhin zwischen euch beiden los?“ Wolfgangs Augen huschten zwischen Tina und Lars hin und her. Er war kein dummer Mann. Als sie sich zuletzt alle gesehen hatten, am Geburtstag der Kleinen kurz vor Halloween, hatten Lars und seine Tochter immerhin noch kaum ein Wort miteinander gesprochen.
„Was soll denn los gewesen sein?“, fragte Lars und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
„Nichts war los. Kann mir mal bitte jemand sagen, was das für ein Lied ist?“ Tina wurde ungehalten. Sie wollte nicht, dass ihr Vater es erfuhr, soviel war Lars klar.
„Ich denke, wir sollten jetzt wirklich die Geschenke für sie aufmachen. Ich kann sie dann auch schon mal ins Bett bringen, dann könnt ihr in Ruhe anstoßen.“
„Das ist ein Kinderchor der Let it Snow singt. Nein, Heike, ich will erst ein Bild mit allen und den verpackten Geschenken auf dem Tisch neben dem Weihnachtsbaum machen. Wo bleibt denn jetzt der Sekt?“
„Gescheeeenkeee!“, krakeelte die Kleine und befingerte ein buntes Päckchen vor ihr.
„Nein noch nicht! Schatzi, wo bleibt …“
„Ich bin schon da.“ Seine Stimme klang träge, während er am Tisch begann den Sekt zu entkorken.
„Alles Geschenke vom Christkind.“
„Doch nicht auf dem Holz. Du haust doch nur Kerben rein.“
„Apropos Geschenke“, erhob Lars seine Stimme, als wolle er auf einer großen Feier eine Rede schwingen, und alle Augen am Tisch richteten sich auf ihn. „Ich habe auch eine Kleinigkeit für euch.“ Er zog eine Tüte unter dem Tisch hervor, in der er für seine Schwester, seinen Schwager und dessen Eltern jeweils ein kleines Päckchen hatte. Unter ihren verblüfften Augen reichte er die Geschenke über den Tisch.
„Aha. Ich denke, du bist ein mittelloser Künstler? Woher kommt denn diese Großzügigkeit?“ Wieder lachte Wolfgang auf diese Art, die wohl heißen sollte, es wäre alles nur ein großer Spaß.
„Ich schenke euch etwas, was man mit Geld nicht kaufen kann: Die Wahrheit.“
Mit einem Plopp! schoss der Plastikkorken aus der Flasche, sicher in die Hand seines Schwagers.
„Was?“ Tinas Augen, weit aufgerissen, sausten zu ihm. Daniela erhob sich mit den Sektgläsern, um sie ihrem Mann zum Befüllen zu bringen.
„Na das klingt ja kryptisch. Dürfen wir schon aufmachen?“
„Nein, Wolfgang! Ich will erst noch ein Foto machen.“ Das Porzellanlächeln seiner Schwester verschwand. Heike seufzte und warf demonstrativ einen Blick auf ihre Armbanduhr. Lars erwiderte Tinas Blick, wohlwissend, dass ihr Vater dies bemerkte.
Ihm gefiel der Gedanke, alle am Tisch mit sich selbst zu konfrontieren. Wenn seine Schwester die Lagen an buntem, verheißungsvollem Geschenkpapier abschälte und darunter fand, wie sehr ihre Schwiegermutter sich in die Erziehung ihrer Tochter einmischte, würde es vielleicht endlich mal einen ehrlichen Streit zwischen ihnen geben. Wenn er ihr das neue Testament ihrer Eltern zeigte, in dem sie nur noch den Pflichtteil bekam und er den gesamten Rest, würde sie vielleicht verstehen, was sie angerichtet hatte.
Ihr Mann würde den Entlassungsbescheid seines Vaters vorfinden und sich fragen müssen, warum seine Eltern ihm das verheimlicht hatten. Sie hatten es beiden Kindern verheimlicht, aber Tina hatte diesen Brief gefunden und ebenfalls beschlossen, den Schein zu wahren. Bis zu dem Abend, an dem sie betrunken und Lars zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen war. Es war ihnen peinlich und es war nicht auszudenken, was Wolfgang und Heike tun würden, sollten sie erfahren, dass ihr Sohn, der Staranwalt, seit Monaten von Tabletten abhängig war. Er schmiss Schlaf- und Beruhigungstabletten ein, sowie Aufputschmittel, wenn er auf der Arbeit funktionieren musste. Und das alles nur, um den Stress in der Kanzlei, sowie den Anforderungen von Daniela und seinen Eltern gerecht zu werden. Etwas, das Daniela sehr wohl wusste und ebenfalls unter den Tisch kehren wollte. Der Schein war allen an diesem Tisch wichtiger als die hässliche Wahrheit. Es war kein Wunder, dass sie Witze über Lars Schauspielkarriere machten. Sie alle waren bessere Schauspieler als er das jemals sein könnte.
„So es kann losgehen.“ Sein Schwager brachte gemeinsam mit Daniela die gefüllten Sektgläser an den Tisch.
„Lars kannst du ein Selfie von uns allen machen?“, fragte seine Schwester, während sie alles am Tisch nochmal um ein Müh verrückte. Sie nahm Heike die Kleine ab, setzte sie auf ihren Schoß, drapierte ihren Mann daneben und Wolfgang und Heike hatten sich dahinter zu stellen. Für Tina und Lars war jeweils an den Seiten Platz.
Lars tat wie ihm geheißen und richtete sein Handy aus. Bevor er auf den Auslöser drückte, sah er das steife Lächeln in den Gesichtern, das über alles hinwegtäuschen sollte. Die Zähne standen aufeinander, die Augen starr. Mehr als das, mehr als eine gute Außendarstellung schien niemand am Tisch zu haben. Eigentlich konnten sie ihm alle leidtun.
Er drückte auf den Knopf, um seiner Schwester das zu geben, was sie unbedingt wollte.
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