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Held

 

Sie hat immer von so jemandem geträumt.

 

Jemandem wie Sam Waterston in seiner Rolle als Staatsanwalt Jack McCoy in Law and Order. Einem Menschen, der sich so sehr von Tugenden, Moral und Ethik leiten lässt, dass er sich gegen alle Widrigkeiten durchsetzen kann, Versuchungen widersteht und immer weiß, was das Richtige zu tun ist. Jemand der seinen Weg geht, Fehler eingestehen und Rückschläge wegstecken kann, ohne sich beirren zu lassen.

 

Jetzt gerade könnte sie so jemanden gut gebrauchen, der ihr morgens, wenn sie nicht aus dem Bett kommt, weil sie nicht weiß, wofür sie aufstehen soll, etwas von seiner Kraft abgibt. Jemanden, der sich ihren Wunden widmet, wenn sie wieder anfangen zu bluten vor Verlustschmerz, Erinnerungen und Selbstvorwürfen. Manchmal scheint die Blutung so stark, dass es sich anfühlt, als würde sie verbluten, ohne zu sterben, sodass sie als leere Hülle weiterexistieren muss. Auch Wunden, die vernarbt sein sollten, geben keine Ruhe und schmerzen noch immer. Wenn das nicht wäre, wüsste sie an manchen Tagen nicht, dass sie noch lebendig ist. Sie redet nicht darüber, weil sie weiß das niemand unbeschadet durchs Leben geht. Und doch wäre es schön, wenn sie all das mit jemandem teilen könnte.

 

Wenn ihr jemand versichern könnte, dass alles wieder gut wird und sie an die Hand nimmt, um sie über die Hürden zu leiten, die auf ihrem Weg warten. Manche sehen so unendlich hoch aus, dass es unmöglich scheint, sie zu überwinden. Zudem ziehen immer wieder Stürme auf, die sie so erschöpft zurücklassen, dass sie keinen Meter mehr gehen mag. Sie möchte stattdessen Unterschlupf finden, bei jemandem, der weiß welche Gewitter wie auszusitzen sind und einem sicheren Kompass folgt. Ihr Weg dagegen scheint seit Jahren weder flacher noch weniger steinig zu werden, sodass sie sich fragt, ob sie nicht lieber umdrehen sollte. Kleinbeigeben.

 

Sie wünscht sich jemanden, der ihr die Last abnimmt und sie davor bewahrt, eine falsche Entscheidung an einer Weggabelung zu treffen. Denn sie weiß manchmal nicht mehr, ob sie ihren Schritten vertrauen kann oder ob sie sie nur ins Chaos stürzen. Schließlich hat sie schon zu oft den falschen Menschen vertraut.

 

Bei all dem erkennt sie nicht, wie weit sie schon gekommen ist. Wie viel Stärke sie bereits bewiesen hat. Sie scheint nicht zu realisieren, dass sie längst ihr eigener Held ist. Und dass es auch Helden erlaubt ist, sich am Ende ihrer Kräfte zu wähnen.

 

Manchmal wächst auch ihnen alles über den Kopf und sie wissen nicht, wie es weitergehen soll. Sie wanken und weinen und leiden und verlieren die Richtung. Der Unterschied ist aber, dass sie nicht aufgeben. Wie sehr sie auch an sich zweifeln, sie verlieren niemals den Glauben an sich. Von irgendwoher ziehen sie immer die Kraft, noch ein kleines bisschen weiter zu gehen. Sie denkt, Helden haben alles im Griff und führen ein geregeltes Leben. Dabei werden Helden genau in den Situationen und Phasen im Leben geboren, in denen nicht alles rund läuft. In denen man sich mit Herz und Kampfgeist gegen Widerstände aufbäumen muss. In denen man an sich und seine Fähigkeiten glauben muss, auch wenn die Welt einem das Gegenteil zeigen möchte. Schließlich kann jeder ein Schiff steuern, wenn die See ruhig ist. Aber ein guter Kapitän wird gemacht, wenn die See rau ist und dem Steuermann einiges abverlangt.

 

Sie wollte zwar nie ihr eigener Held, ihr eigener Jack McCoy sein, doch wenn sie durch all das, was sie jetzt durchmacht, andere Menschen erreichen und ihnen helfen kann, dann ist es all das wert. Für andere Menschen das zu sein, was sie selbst in dieser Phase ihres Lebens nicht hat: Jemanden, dessen Beispiel sie folgen kann. Jemand, der Mut, Ruhe und Stärke ausstrahlt. Jemand der Rat für sie hat und ihr zur Seite steht.

 

Sie hat nie um kräftigere Schultern gebeten, sie wollte nur, dass all das aufhört. Aber sie hat immer weitergemacht und ihre Schultern sind breiter geworden.

 

Deshalb ist sie mein Held.

 

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