Freitagabend
Exakt um 21:20 Uhr erreichten sie einen Wohnkomplex in der Nachbarstadt. Sie parkten in Sichtweite und rutschten tiefer in ihre Sitze.
„Ich hoffe, wir kommen rein“, murmelte Leon.
„Sicher. Hier geht immer wer rein und raus hat Jan doch gesagt. Und wir sind hier in der Großstadt. Die Leute kennen ihre Nachbarn nicht.“
Leon war sichtlich nervös, während Timo die Straße beobachtete. „Da. Das Pärchen mit den Einkäufen“, raunte er nach wenigen Minuten. Im Rückspiegel sahen sie einen Mann und eine Frau die dunkle Straße entlanglaufen. Sie schleppten schwere Tüten und brauchten eine Weile, um die Eingangstür zu erreichen. Leon und Timo stiegen sich unterhaltend aus und liefen stramm über die Straße, während die beiden aufschlossen.
Als das Pärchen den Flur betreten hatte, sprinteten sie los und Leon bekam gerade noch den Knauf der Tür zu packen, bevor selbige ins Schloss fiel. Schritte des Pärchens hallten auf der Treppe nach oben wider. Doch sie waren bereits zu weit entfernt, um noch etwas zu sehen. Leon und Timo schlüpften in den Flur, achteten darauf, dass die Haustür hörbar zufiel und eilten die Treppe nach unten in den Keller. Es war alles still um sie herum, bloß ihre Herzen klopften laut und ihr Atem ging schnaufend.
Eine unabgeschlossene Tür war das einzige Hindernis zu den Kellerparzellen der Bewohner. Sie wussten nach was sie suchen mussten und teilten sich im modrig riechenden Raum auf, sodass sie das Fahrrad schneller fanden. Das Fahrrad dessen Besitzer heute Abend nicht zuhause war, wie sie von Jan wussten.
„Hier, ich hab es!“, rief Timo mit gedämpfter Stimme.
Als Leon zu ihm lief, kniete Timo bereits an einem doppelt angeketteten Rennrad und verzierte beide Reifen mit Reißzwecken, die er mit behandschuhten Fingern tief in das Gummi steckte. Leon schraubte derweil mit zittrigen Händen die Gangschaltung ab und entwendete den Sattel. Diesen nahm er auch mit, als Timo und er wenige Minuten später fertig waren und von dem Rad nicht mehr als demolierte, teure und fahruntüchtige Reste zurückließen. Gerade als sie die Haustür erreichten fiel irgendwo oben eine Wohnungstür zu und Schritte polterten die Treppe herunter. Die beiden rannten so schnell sie konnten zum Auto und rasten auffälliger davon als geplant.
Um 21:32 Uhr wollte der Ehemann von Ramona Drechsler auf seinem Parkplatz parken und konnte dies zum wiederholten Mal nicht, da Jans Wagen seinen Stellplatz blockierte. Ramona Drechsler wusste mittlerweile ganz genau, zu wem dieser Gast gehörte und klingelte nur eine Minute später sturm in Leons Wohnung, um Jan über die Gegensprechanlage wütend anzuschreien. Erst als sie mit dem Abschleppdienst drohte, rief Jan in den leeren Raum: „Oh Mann, die Alte rastet wieder aus. Bin gleich wieder da, Jungs!“
Nach einem Schluck Bier, um den Eindruck zu erwecken, gut gebechert zu haben, lief Jan polternd und ohne Jacke nach unten, wo er sich vor seinem Auto ein hitziges Wortgefecht mit der Frau lieferte. Sie würde später der Polizei gegenüber aussagen, dass sie gut zehn Minuten unten in der Dunkelheit gestritten hatten und dass er unverschämt, angetrunken und uneinsichtig gewesen sei. Und dass sie am liebsten Anzeige gegen ihn erstatten würde.
Jan fuhr das Auto um die Ecke und wartete, bis Timo und Leon wenige Minuten später hinter ihm parkten. Sie räumten den Sattel, sowie Key- und Carscanner in Leons Kofferraum und gingen zurück in Leons Wohnung, wobei sie sich nicht bemühten leise zu sein, sondern über die Nachbarin schimpfend durchs Treppenhaus zogen.
Um 22 Uhr waren sie wieder oben in der Wohnung und beantworteten Nachrichten, die auf ihrem Smartphone eingegangen waren, welche in Leons WLAN eingeloggt seit Beginn des Abends auf dem Sofa lagen. Jan achtete darauf, sich bei seiner Freundin über die Nachbarin zu beschweren und als sie ihn kurz anrief, sorgten Leon und Timo für die entsprechende Geräuschkulisse eines Männerabends. Um 22:17 Uhr wurde es Zeit für das Herzstück des Abends. Während Timo ein Bier hinunter stürzte, schlichen sich Leon und Jan erneut aus der Wohnung, in der Hoffnung, dass sie niemand bemerkte.
Als der Zeiger auf 22:40 Uhr sprang, bekam Tanja Kessler einen Anruf von einer Nummer, den sie am liebsten weggedrückt hätte. Sie war zum Vorglühen bei Freunden und als sie das Handydisplay zu ihrer Freundin drehte, stieß diese einen vergnügten Laut aus, stellte die Musik aus und bedeutete allen, still zu sein. Tanja nahm das Gespräch an und stellte auf Freisprecher.
„Was willst du Timo?“
„Hi, bitte leg nicht auf!“ Er klang angetrunken und seine Stimme hallte merkwürdig.
„Wo bist du?“
„Bei Leon. Also … in seinem Treppenhaus. Die Musik ist so laut und ich wollte in Ruhe mit dir reden.“
„Worüber denn? Es gibt nichts mehr zu reden.“
„Tanja komm schon. Ich hab dir das Tablet, den Laptop und all die Sachen gekauft, weil ich mit dir zusammen ziehen und die Dinge auch benutzen wollte. Das waren keine Geschenke für dich und ich hätte dir das auch nie geschenkt, wenn ich gewusst hätte, dass du längst einen anderen nebenher hast.“
„Dein Pech.“
„Was? Willst du mich verarschen?“ Timo wurde lauter.
„Das Leben ist halt so.“
„Alter, gib mir meine Sachen wieder! Die waren teurer, als alles, was du dir je leisten könntest!“
„Sagt wer? Außerdem habe ich dir auch Sachen geschenkt und will die nicht wiederhaben.“
„Dein scheiß Armband für drei Euro kannst du gerne wiederhaben!“
„Was soll denn die Schreierei hier im Treppenhaus?“ Reiner Breyer riss seine Wohnungstür auf, zu der Timo gelaufen war und im Dunkeln davor telefonierte.
„Warte kurz, Leons Nachbar von unten …“
„Gar nichts mache ich.“ Tanja legte auf. Und Timo ließ sich von Breyer anschreien. Die Musik war ihm immer noch zu laut und das Geplärre im Treppenhaus erst recht. Zur gleichen Zeit betraten Leon und Jan auf Socken Tanjas finstere, verlassene Wohnung. Timo hatte ihr zwar ihren Schlüssel wiedergegeben, doch erst nachdem er ihn nachgemacht hatte. Sie flüchteten mit Laptop, Tablet und einer teuren Armbanduhr.
Um exakt 23 Uhr trafen sie wieder bei Leon ein, ohne unten auf der Straße gesehen worden zu sein. Es wurde Zeit für den finalen Teil der Nacht. Den Teil, in dem sie Tanjas Geräte versteckten und die Bahn zum beliebtesten Club der Stadt nahmen. Allerdings stiegen sie ein paar Stationen vorher aus, um den Sattel, den Zweitschlüssel, sowie Key- und Carscanner unbeobachtet in den Fluss zu schmeißen. Alles was sie danach noch tun mussten, war zu feiern. So sehr, dass sie am nächsten Morgen einen überzeugenden Kater vorzuweisen hatten.
Samstagmittag
„Timo Bender, 26 Jahre alt. Hatten Sie eine wilde Nacht?“
„Das kann man wohl sagen.“
„Welchen Anlass gab es denn?“
„Keinen besonderen. Wir hatten nur Bock zu zocken und je mehr wir getrunken haben, desto mehr Lust hatten wir dann noch feiern zu gehen.“
„Und trotzdem haben Sie noch daran gedacht, bei Ihrer Ex-Freundin anzurufen? Nachdem Sie sich zwei Wochen lang nicht gemeldet hatten. Wie kam das?“
„Bin ich deswegen hier? Hat Sie mich wegen einem Anruf angezeigt? Ich hab versucht die Sache abzuhaken, aber gestern Abend ging das einfach nicht. Ich hab die Sachen gekauft und nur bei ihr gelassen, weil wir vorhatten zusammenzuziehen. Aber sie hat mich betrogen und jetzt will sie mir meinen Kram nicht mehr geben. Ich sollte sie anzeigen.“
„Sie haben sie also angerufen, um ihr zu sagen, dass Sie gerne Ihren Laptop, Ihr Tablet und eine Uhr wieder hätten?“
„Ja.“
„Das war um zwanzig vor elf. Wieso haben Sie dafür die Wohnung verlassen und sind ein Stockwerk nach unten gelaufen?“
„Es war oben zu laut, weil Leon und Jan gesoffen und gezockt haben.“
„Ich habe eher den Eindruck, die beiden waren gar nicht in die Wohnung, sondern in der Wohnung Ihrer Ex-Freundin, während Sie sich ein Alibi bei Reiner Breyer verschafft haben.“
„Wie kommen Sie denn darauf? Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden.“
„Ach kommen Sie. Es ist doch kein Zufall, dass sie ausgerechnet in dem Moment anrufen, wo Ihre Ex-Freundin nicht zuhause ist, Sie mit Ihr über die Dinge reden, die Sie wiederhaben wollen und just in dem Augenblick wird bei ihr Zuhause eingebrochen und genau diese Dinge verschwinden.“
„Was? Was soll das heißen, die Dinge verschwinden?“
„Tun Sie doch nicht so. Ihre Ex-Freundin hat Anzeige gegen Sie erstattet! Wir werden Ihre Wohnung, sowie die Wohnungen Ihrer Freunde durchsuchen. Sollten wir auch nur einen Gegenstand oder einen Schlüssel für die Wohnung finden, sind Sie dran!“
„Ich weiß überhaupt nicht was Sie von mir wollen! Wir haben nichts getan!“
„Dann soll es also nur Zufall sein, dass alle, mit denen Sie und Ihre Freunde noch eine Rechnung offen hatten, gestern Abend um Ihr Hab und Gut gekommen sind?“
„Mit wem haben wir denn noch eine Rechnung offen?“
„Das wissen Sie doch genau. Wir haben Bilder der Kameras aus der Bahn. Sie hatten Rucksäcke auf, auf dem Weg in den Club. Auf dem Rückweg nicht mehr. Was war da drin und wo sind die Rucksäcke?“
„Da war Alkohol drin und die müssen wir irgendwo verloren haben. Wir waren dicht.“
„Das glauben Sie doch wohl selber nicht. Sie …“
„Vergessen Sie’s! Ich will einen Anwalt! Ich war den ganzen Abend mit meinen Freunden zusammen, mehr habe ich Ihnen nicht zu sagen. Wenn Sie Beweise für Ihre Behauptungen haben, können wir ja weiterreden. Bis dahin sag ich nichts mehr.“
Zwei Wochen später
„Wir sollten noch warten. Was ist, wenn die Bullen uns noch auf den Fersen sitzen?“, flüsterte Jan auf der Rückbank von Leons Auto.
„Wir können nicht noch länger warten. Ihr Vater wechselt morgen mit ihr die Reifen. Und du weißt, was sie finden werden, wenn sie in ihrem Keller den Reifenstapel verrücken.“ Timo blickte durch die Windschutzscheibe auf Tanjas Hauseingang.
„Aber sie ist zuhause. Was ist, wenn sie heute in den Keller geht?“
„Mann jetzt beruhig dich, Jan. Du hättest uns bei den Bullen fast schon das Genick gebrochen. Bleib cool. Wir halten uns an den Plan. Bist du bereit Leon?“
„Ja.“
Timo stieg aus. Er sah sich kurz um, um zu überprüfen, ob ihn jemand beobachtete, doch die Straße vor Tanjas Wohnung war wie ausgestorben. In ihren Fenstern brannte Licht. Er klingelte bei ihr und als sie sich über die Gegensprechanlage meldete, sagte er genau das, was sie geplant hatten. Er entschuldigte sich bei ihr dafür, dass die Dinge zwischen ihnen mittlerweile so schlimm geworden waren, dass sie ihm einen Einbruch bei ihr zutraute. Er bat sie um ein letztes Gespräch, um wenigstens im Guten auseinanderzugehen. Kaum dass sie über den Summer die Tür öffnete, gab Timo seinen Freunden ein Zeichen.
Sie stiegen aus dem Wagen und sprinteten geduckt zur Haustür, die Timo ihnen aufhielt. Während er dann langsam und geräuschvoll die Treppe in den dritten Stock erklomm, schlichen Jan und Leon nach unten zu den Kellerräumen. Tanja hatte schon immer einen Ersatzschlüssel oberhalb der Kellertür positioniert, an den die Jungs mit Leichtigkeit herankamen. Sie öffneten das Kellerabteil, gingen zum Reifenstapel und nahmen sich die Sachen, die sie zwei Wochen zuvor hier versteckt hatten. Mit der Beute unter dem Arm schlossen sie den Keller wieder ab, legten den Schlüssel zurück und beeilten sich, zum Wagen zu kommen. Dann fuhren sie ungesehen davon, bereit sich mit Timo in einigen Stunden bei Leon zu treffen.
Und ihren Sieg zu feiern.
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