Das Gefühl des Triumphs flutete ihn, als er die Trauerhalle betrat. Das hier war größer als sein Weltmeistertitel im Schach. Die Augen in den Reihen, an denen er vorbei nach vorne schritt, folgten ihm, hinter ihm brach eifriges Getuschel los. Frederick von Hauenstein verzog keine Miene, je näher er dem Sarg kam. Er kondolierte der Witwe, die unter ihrem schwarzen Hut und den Bergen an Taschentüchern vor ihrem Gesicht kaum zu erkennen war. Die beiden erwachsenen Kindern beäugten ihn, als er sich einige Plätze entfernt von ihnen in der ersten Reihe niederließ.
„Verehrte Trauergemeinde“, der Pfarrer trat neben den Sarg vor ein Mikrofon. „Wir haben uns heute hier versammelt, um Abschied zu nehmen von Paul Sandstrom, einem hochgeschätzten Mitglied der Gemeinde, einem liebenden Ehemann und Vater und einer Inspiration für seine Freunde und Tausende von Menschen, die sein Schachspiel und seine Rekorde verfolgt haben.“
Um ihn herum begann ein Konzert aus Schnäuzen und Schniefen, das in der zugigen Luft an Fredericks Ohren getragen wurde. Er blickte auf das Bild seines früheren Freundes und erbittertsten Konkurrenten. Die Reporter und Fotografen, die am Friedhofseingang warteten, würden sich jeden Gast der Trauerfeier schnappen und zum Verhalten von Schachgroßmeister Frederick von Hauenstein ausfragen. Er witterte bereits die Schlagzeilen über seinen letzten, finalen Zug. Der König stand verlassen und schutzlos vor ihm. Kein hinterhältiger Läufer mehr, kein nerviger Springer, kein solider Turm, keine mächtige Dame konnte ihn noch beschützen. Es gab noch nicht mal mehr den Hoffnungsschimmer, den ein einsamer Bauer symbolisieren konnte.
Frederick begann seinen Zug, als er für seine Trauerrede an das Mikrofon trat.
„Seit Jahren, im Grunde mit Beginn unserer Karrieren, als wir von leidenschaftlichen Schachspielern zu Personen der Öffentlichkeit wurden, lese ich in den Zeitungen wir wären erbitterte Feinde, die einander nichts gönnen. Uns wurde nachgesagt, wir würden uns mit unseren Erfolgen duellieren. Über die Gründe wurden wilde und haltlose Spekulationen angestellt. Ich bin heute hier, um Pauls letztem Willen entsprechend, endlich die Wahrheit zu sagen und sein Leben, sowie seine Erfolge zu ehren.“
Er legte eine Pause ein, damit sie alle an seinen Lippen kleben bleiben konnten.
„Pauls und meine Feindschaft war zumindest zu Beginn nichts als eine Farce für die Presse.“
20 Jahre zuvor.
Pauls Stimme erhob sich über das Knistern des Kaminfeuers. „Wenn du die Dame dahinziehst, bist du in fünf Zügen schachmatt.“ Er grinste. Sie hatten nur zum Spaß spielen wollen, ohne Uhr, wie sie es schon lange nicht mehr getan hatten. Aber so etwas wie Spaß gab es nicht mehr, seit sie beide Großmeister waren.
Frederick betrachtete das Brett und die vielsagend zuckende Augenbraue seines Freundes. Er erkannte die Falle nicht und er wollte und durfte nicht nachgeben. Er zog die Dame und schlug fünf Züge später seine Hände vors Gesicht. „Verdammt.“
Sie gaben sich die Hand. Es sollte der letzte Händedruck für eine Weile sein.
„Du scheinst nicht auf der Höhe zu sein im Moment. Whiskey?“
Fredrick nickte. Paul stand auf und trat an seine kleine Bar. „Haben deine Konzentrationsprobleme mit der Frau zu tun, mit der du neulich in diesem Restaurant warst?“
„Unter anderem. Intelligenz ist ein Aphrodisiakum.“
„Wenn du das sagst.“
„Willst du mir erzählen, es gibt keine, bei der du schwach wirst?“
Paul drehte sich um und kam mit zwei Gläsern voll einer handbreit Whiskey zurück. „Nein. Im Gegensatz zu dir könnte ich meine Frau nicht betrügen.“
Sie stießen an.
„Ich weiß nicht, ob ich dich Pantoffelheld oder Romantiker nennen soll.“ Frederick ließ den Geschmack seine Zunge verlassen. Paul stellte sein Glas ab, das Geräusch erhob sich über das Kaminfeuer.
„Es geht mir nicht ausschließlich darum. Ich würde niemals die Stabilität aufs Spiel setzen, die sie mir gibt. Das ist immens wichtig für die Karriere.“
„Wie darf ich das verstehen?“
Paul rutschte auf seinem Sessel vor bis an die Kante. „Ich will alle Rekorde jagen, die es gibt. Ich arbeite an Schachkompositionen. Ich will der größte Schachspieler aller Zeiten werden. Und das geht nur, wenn mir jemand den Rücken freihält.“
Frederick hatte nur darauf gewartet, seinem Freund zeigen zu können, dass er dafür erstmal an ihm vorbeimusste. „Ich habe letzte Woche eine Komposition beim Verband eingereicht. Anscheinend brauche ich andere Stabilität.“
Das kurze Erschlaffen von Pauls Mundwinkeln war alles, was Frederick sich von diesem Abend erhofft hatte. Paul trank einen Schluck. „Hast du nicht Angst, dass deine Frau dich rauswirft?“
„Sie wird es nicht erfahren. Ich bin vorsichtig und außer dir weiß es keiner.“
„Hm.“
„Glaubst du wirklich, die Presse wird irgendwann den größten Schachspieler aller Zeiten küren? Wir sind nicht gerade populär.“
Pauls Augen fixierten ihn, ohne zu blinzeln. „Was ist, wenn ich eine Idee hätte, das zu ändern?“
„Und wie willst du das anstellen?“
„Sieh mal, bei Schachspielern denken die Leute an trockene Intelligenz und nicht an Menschen mit Emotionen und Konkurrenzdenken, sowie in fast jeder anderen Sportart. Aber wenn wir Entertainer werden, wenn wir ihnen ein Drama liefern, das sie in ihren Hintergrundberichten erzählen können, dann machen wir uns und das Schach populär. Das ist für Zuschauer das Salz in der Suppe.“
Seine Hände hatten vor Begeisterung in der Luft gestikuliert und kehrten nun zurück an sein Glas. Frederick schmeckte seine Worte auf der Zunge. Schließlich sagte er: „Wie stellst du dir das vor?“
Jetzt.
Die verweinten Augen in der Menge waren auf ihn gerichtet, die Taschentücher verharrten im Schoß, als er nach seiner kleinen Geschichte eine dramatische Pause einlegte.
„Er hat mir an diesem Abend einen Plan vorgelegt, der vorsah, dass wir uns zukünftig in der Presse denunzieren sollten, anstatt uns Respekt zu zollen. Bei Nachfragen in Interviews sollten wir angeben, unsere Freundschaft sei lange her. Wie Sie sich vielleicht erinnern, hat das am Anfang nicht allzu gut funktioniert. Ich war der Meinung, die Presse interessiert sich nicht für Schachspieler, er dachte, wir wären nicht überzeugend genug gewesen. Vielleicht hat er deshalb getan, was er dann getan hat.“
Vor 15 Jahren.
Frederick merkte, dass etwas nicht stimmte, als er die Haustür aufschloss und überall Licht brannte, jedoch kein Mucks zu hören war. Der Fernseher lief nicht, auf dem Herd blubberte nichts.
„Liebling? Ich bin wieder da. Der PR-Termin lief gut und ich …“ Das Knacken von Scherben unter seinen Schuhen ließ ihn erstarren. Zuerst glaubte er, jemand war eingebrochen und hatte Fensterglas unter seinen Schuhen im Haus verteilt. Doch das Fenster neben dem Sofa war unversehrt. Dafür lag einige Meter vor seinen Schuhspitzen sein Hochzeitsbild auf dem Boden, das Glas gesprungen, direkt über Madeleines Kopf.
„Madeleine wo bist du?“
Das Bild konnte nur runtergefallen sein. Sie konnte nicht wissen, dass er bei keinem PR-Termin für die Nationalmannschaft gewesen war, sondern bei Nadja, der Kellnerin aus der Bar. Dennoch raste sein Herz, als er den Briefumschlag auf dem Sofatisch entdeckte. Er wollte seine Frau und seinen Sohn suchen, aber der Brief ließ seine Augen nicht los. Seine Finger zitterten, als er ihn aufriss. Er konnte sich nicht setzen, nicht seinen Mantel ausziehen, sein ganzer Körper wollte die Worte lesen, die in ihrer Handschrift vor ihm auf das Papier gekritzelt waren. Aber er musste mehrmals tief durchatmen, damit die Worte nicht mehr vor seinen Augen verschwammen.
Mein liebster Freddie,
ich schreibe nur mein Liebster, weil es das letzte Mal sein wird und ich dich immer gerne so genannt habe. Du bist mein Liebster, aber ich weiß jetzt endgültig, dass ich nicht deine Liebste bin. Und das obwohl ich dir einen Sohn geschenkt habe und jeden Tag alles tun würde, um dich glücklich zu sehen. Aber du tust das nicht für mich, sonst könntest du mich nicht betrügen. Ich habe die Bilder von dir und den Frauen gesehen und ich weiß, bei wem du gerade wirklich bist. Der blonden Kellnerin. Was können all diese Frauen dir geben, was ich nicht kann? Bin ich nur noch eine Last für dich? Ich befürchte ja. Aber ich möchte nicht mehr ohne dich leben. Ich warte, bis unser Sohn eingeschlafen ist, dann befreie ich dich von mir. Pass gut auf ihn auf.
In Liebe,
Madeleine
Er japste nach Luft, las den Brief noch einmal, um zu verstehen, als aus dem Bad ein Gluckern kam. Er rannte durch den Flur, riss die Badtür auf und erstarrte angesichts der Menge aus Wasser und Blut. Aus der Wanne war das Wasser übergeschwappt, Madeleine lag leblos und nackt darin, ihre Arme auf den Wannenrändern, ihre Handgelenke aufgeschnitten und blutleer. Ihr Gesicht war so blass und erschien ihm so zerbrechlich wie Porzellan. Er wollte es berühren und wusste doch, es würde kalt und abweisend sein.
Frederick sank schluchzend auf die Knie. Das blutige Wasser drang durch den Stoff seiner Hose.
Jetzt.
Es war kaum noch ein Schnäuzen zu hören. Leises Gemurmel ging durch die Reihen.
„Mit Sicherheit kennen viele von Ihnen die Schlagzeilen, die damals nicht aufhören wollten. Jede Kanaille von einem Journalisten hat geschrieben, ich hätte meine Frau mit den Affären in den Selbstmord getrieben. Mir war vom ersten Tag an klar, dass das stimmt, aber auch, dass mein ehemals bester Freund, Paul, mich an Madeleine verraten haben musste. Die Presse hat das belächelt und gierig berichtet, wie ich Paul von ihrer Beerdigung geworfen habe. Er hat alles abgestritten. Von da an, waren wir womöglich wirklich verfeindet. Aber es ging nicht mehr um Schach. Zumindest in den Berichten um mich. Ich würde öffentlich seziert. Meine Affären wurden ans Tageslicht gebracht, mein Sohn zur Schwester meiner Frau gegeben und dem wurde applaudiert. Jedes Mal, wenn ich in einer Bar zu viel getrunken hatte wurde mir eine Alkoholsucht nachgesagt. Mein Schachspiel ging vor die Hunde. Ich hatte keine Energie, um mich darauf zu konzentrieren. Aber Paul … Paul wurde der Star, der Rekordspieler, der er immer werden wollte.“
Sein Atem hinterließ eine flüchtige Wolke in der zugigen Luft. Die Blicke der Anwesenden waren allesamt auf ihn gerichtet, manche geschockt und bestürzt, andere irritiert. Seine Stimme war zu hart geworden. Frederick räusperte sich.
„Ich dachte, ich komme nicht mehr auf die Beine. Es ging erst bergauf, als ich mir meine Schuld eingestanden habe. Und kaum hatte ich das getan, fand ich den Beweis für das, was Paul getan hatte. Wir sind heute hier, um seinen Tod zu betrauern. Aber ich denke, Sie alle sollten wissen, wie rücksichtslos der bisher größte Schachspieler aller Zeiten auf dem Weg zu seinem Erfolg war.“
5 Jahre zuvor.
Es war eine Ewigkeit her, seit Frederick Paul zuletzt gesehen hatte. Er schwebte in anderen Sphären. Doch das schützte ihn nicht vor allem. Frederick hatte über ein anderes Mitglied der Nationalmannschaft erfahren, dass Paul heute noch eine Trainingseinheit mit Jörg, dem Bundestrainer hatte. Und er erkannte Pauls Hinterkopf sofort, auch wenn seine Haare spärlicher waren als früher. Sie waren allein im Raum, saßen am hintersten Schachbrett in der Ecke. Jörg, der Frederick ausgemustert hatte, entdeckte ihn, als er die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, aber sein erstauntes: „Was machst du denn hier?“, konnte ihn nicht mehr aufhalten.
Frederick räumte alle Figuren mit seinem Arm vom Brett und während sie hölzern auf den Boden schepperten, holte er aus und schlug Paul mit der Faust ins Gesicht.
„Himmel, hör auf damit!“ Frederick spürte, wie Jörg ihn packte und wegdrückte. Das Stechen in seiner Hand ignorierend kämpfte er dagegen an.
„Du verdammter Verräter! Du hast sie in den Selbstmord getrieben!“
Paul war vom Stuhl gerutscht, seine Nase blutete, als er wieder auf die Knie kam.
„Was zum Teufel ..? Ich weiß nicht, wovon du …“
„Du weißt nicht, wovon ich rede? Davon!“ Er löste sich von Jörgs Griff, der schnaufend zwischen ihnen stehenblieb und griff nach den Fotos in der Innentasche seines Mantels, um sie Paul entgegenzuschleudern.
„Was ist das?“ Jörg bückte sich nach einem, ohne ihn aus den Augen zu lassen. „Du mit einer anderen Frau im Restaurant?“
„Er hat mich beschatten lassen! Da sind noch ganz andere Bilder dabei. Dreh es um und lies die Rückseite. Das ist Pauls Handschrift!“
Jörg las stirnrunzelnd was auf der Rückseite des Fotos stand. „Frederick treibt sich mit anderen Frauen rum. Und er wird damit bestimmt nicht aufhören. Du solltest ihm zeigen, dass du keine Schachfigur bist, die er verschieben kann, wie er möchte. Die Dame hat mehr Macht als der König.“ Jörg drehte sich um. Paul stand wieder und wischte sich das Blut von der Nase.
„Was seht ihr mich so an? Ich habe dazu nichts zu sagen. Ich bin nicht schuld daran, dass sie sich umgebracht hat, das hast du ganz allein geschafft. Mach mich nicht für dein beschissenes Leben verantwortlich. Du weißt, ein König ist nichts ohne die Dame.“
Zorn, wie er ihn noch nie verspürt hatte, packte Frederick und schob ihn vorwärts. Doch Jörg war stärker und schubste ihn zurück.
„Geh jetzt, das bringt doch nichts. Ihr seid Schachspieler. Klärt das vernünftig.“
„Oh ja, das werden wir. Ich werde dir zeigen, dass dir dein kranker Ehrgeiz nichts gebracht hat. Die Welt wird erfahren, wer der bessere Schachspieler ist.“
Frederick zerrte seinen Mantelkragen zurecht und verließ den Raum.
Jetzt.
Gemurmel erhob sich unter den Anwesenden. Pauls Witwe schüttelte den Kopf, Tränen der Empörung standen in ihren Augen.
„Die Ereignisse jenes Abends sind in Teilen nach außen gedrungen, doch keiner von uns hat sich bis heute dazu geäußert. Ich bin mir sicher, dass der hier heute anwesende Bundestrainer meine Darstellung bestätigen kann.“
Jacken und Kostüme raschelten, als sich Köpfe drehten, auf der Suche nach Jörg. Er saß mittig, seine Arme vor der Brust verschränkt und seine sauertöpfische Miene verriet, dass er mit dieser Offenbarung ganz und gar nicht einverstanden war.
„In all den Jahren haben Paul und ich kein einziges Mal wieder am selben Schachbrett gesessen. Ich fing wieder an, meine Karriere aufzunehmen und konnte Erfolge feiern, während Paul eine Reihe von Niederlagen und schludrige Konzentrationsfehler hinnehmen musste. Auch ich war geschockt, als bei ihm eine Schilddrüsenüberfunktion, Morbus Basedow in der Fachsprache, diagnostiziert wurde. Aber ich war keineswegs überrascht, dass er trotz der Medikamente, die er nehmen musste und trotz der Aussicht auf eine Operation und obwohl er wirklich starke Konzentrationsprobleme hatte, dennoch unbedingt zur Schachweltmeisterschaft wollte. Um alles in der Welt wollte er seinen Titel verteidigen. Sein Motto, das ihn erst so weit gebracht hat, war immer anzutreten. Zu jedem Training. Zu jedem Match. Trotz Müdigkeit, Krankheit, Hunger, Kummer oder Sorgen. Ich hätte nie gedacht, dass ihn das einmal umbringen würde. Unser Aufeinandertreffen im Viertelfinale der WM war vor zwei Monaten. Ein paar Wochen vorher, habe ich ihn in seinem Haus besucht, um das Kriegsbeil zu begraben.“
Vor dreieinhalb Monaten.
„Das letzte Mal, als ich dich gesehen habe, wolltest du mir die Nase brechen und jetzt soll ich dir glauben, dass du Frieden schließen möchtest?“
Paul hatte schon einmal besser ausgesehen, als er sich mit einer Tasse Kaffee ihm gegenüber an den Küchentisch setzte.
„Es ist fünf Jahre her. Ich habe dazu gelernt. Und ich möchte mich bei dir entschuldigen. Ich weiß, dass du mir so etwas niemals angetan hättest. Du hast Madeleine die Bilder damals sicher nicht geschickt.“
Paul senkte hastig seinen Blick und führte seine Kaffeetasse zum Mund. „Das … Richtig. Danke. Gut, zu wissen.“
„Schläfst du noch schlecht?“
„Eine Zeit lang habe ich das. Mit den Tabletten jetzt geht es. Mein Körper produziert zu viel von dem Schilddrüsenhormon Thyroxin und bevor sie mich an dem Ding operieren können, muss ich erstmal diese Dinger schlucken.“ Er klopfte auf eine Pillendose auf dem Tisch und öffnete sie kurz, sodass Frederik einen Blick auf einen Haufen identischer weißer Tabletten werfen konnte.
„Ja, ein Freund von mir ist Arzt, er hat mir da ein bisschen was zu erzählt. Hast du keine Angst, die Dinger mal zu verwechseln?“
Paul lachte. „Mit was denn? Sonst nehme ich doch noch nichts.“
„Das stimmt wohl. Für dich wäre wohl nur Thyroxin gefährlich.“ Frederick setzte seine Tasse an seine Lippen.
„Mag sein.“
Paul räusperte sich. Eine kurze Pause entstand. Pauls Bein wippte unter dem Tisch, er hielt seinen Blick auf der Maserung des Tisches.
„Wie geht es denn deinem Sohn?“
„Wir haben uns in den letzten Jahren wieder angenähert. Er möchte nach seinem Abitur Psychologie studieren, um mehr Leute vor dem Suizid zu retten.“
„Das ist ein … nobles Ziel.“
„Hast du nicht einige Fachbücher von deiner Schwester zu dem Thema? Vielleicht könntest du mir eines leihen, damit er sich ein bisschen einlesen kann.“
„Natürlich, ich schaue gleich mal oben nach. Und dann habe ich leider noch einen Termin, also …“
„Ich verstehe.“
Frederick erhob sich mit Paul, der erleichtert wirkte, als er ihn aus der Küche führen konnte. Paul nahm die Treppe nach oben, während Frederick zu seinem Mantel schritt, der im Flur hing. Er nahm ihm vom Haken und kehrte leise und schnell in die Küche zurück.
Es verlief alles nach Plan.
Jetzt.
„Obwohl Paul immer noch nicht zugeben konnte, was er damals getan hatte, habe ich ihm angesehen, wie sehr er alles bereut hat. Das hat mir dabei geholfen, ihm zu verzeihen.“
Das Raunen unter den Anwesenden wurde lauter. Es war Zeit, zum Höhepunkt zu kommen, zu seinem großen Finale. Seinem Triumph.
„Dank der Presse kamen martialische Schlagzeilen zustande, als wir uns im Viertelfinale der WM gegenüberstanden. Im Endeffekt war es ziemlich unspektakulär. Er hatte den Höhepunkt seiner Karriere überschritten und war einfach zu satt für das Spiel. Ich dagegen war hungrig wie nie. Aber ich musste seinen König jagen, denn Paul hat sich getreu seinem Motto natürlich geweigert aufzugeben. Die Zeitungen konnten sich danach nicht einigen. Die einen schrieben, ich hätte seinen Untergang besiegelt, die anderen sagten, er hätte sich verzockt, die Krankheit würde ihn seiner Leistungsfähigkeit berauben. Ich weiß nicht, was stimmt. Ich weiß nur, dass ich amtierender Schachweltmeister bin und Paul sich bis zu seinem tödlichen Autounfall nicht dazu durchringen konnte, mir zu gratulieren. Er war der Sonnenjunge der Presse, aber sein Ehrgeiz hat ihn verfinstert. Vielleicht hat er durch all das seine Tabletten nicht korrekt eingenommen und es kam deshalb während des Fahrens zu einer thyreotoxischen Krise, die ihn das Bewusstsein hat verlieren und diesen tödlichen Unfall verursachen lassen. Ich trauere heute um meinen Freund und möchte seiner Familie mein Beileid aussprechen. Möge sie diesen Schicksalsschlag akzeptieren können und in seinem Andenken weiterleben. Als Zeichen meiner Verbundenheit stelle ich diesen Schachkönig auf seinen Sarg. Er ist von einem der letzten Spiele, die wir freundschaftlich gegeneinander bestritten haben. Mach es gut, mein Freund. Die letzte Reise trittst du ohne deine Dame an. Danke, dass ich vor Ihnen sprechen durfte.“
Er drehte sich um und platzierte den König auf dem Sarg. Dabei strich er mit seinem Finger über das Etikett, das er auf das Filz am Sockel der Figur geklebt hatte. Mit dem Rücken zur Menge, konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen. Frederik senkte sein Kinn und wartete die angemessenen Sekunden, ehe er sich abwandte und die Trauerhalle verließ. Wie bei seinem Eintritt spürte er alle Blicke auf sich, bis er hinaustrat auf den verschneiten, stillen Friedhof.
Er hatte es geschafft.
Nach all den Jahren hatte er das Spiel gewonnen, so hinterhältig und überfallartig wie mit dem Schäferzug. Frederick richtete sich auf, als er sich dem Haupteingang und den Fotografen näherte. Er setzte seinen Hut auf und zog ihn tief in die Stirn. Während er durch das Blitzlichtgewitter trat, dachte er an die anderen, mit denen er noch eine Rechnung offen hatte. Doch für jetzt galt es Abschied zu nehmen. Abschied von seinen Rachegelüsten. Abschied von dem Gefühl, von Paul besiegt worden zu sein. Paul war tot. Es war vorbei.
Er war endlich schachmatt.
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