Beim Weg nach oben in die Wohnung waren sie einem Nachbarn aufgefallen. Keinem, der Rebecca noch von früher kannte und wüsste, wen er an ihrer Seite zu erwarten hatte. Aber einem, der sehr wohl wusste, dass die Wohnung im zweiten Stock leer stand und er die beiden noch nie im Haus gesehen hatte. Unten auf der Straße blickte er die Fassade empor. Die Rollläden vor den Fenstern im zweiten Stock wurden nicht hochgezogen, es war der einzige Balkon im ganzen Haus, der nicht weihnachtlich geschmückt war. Die Wohnung stand ganz eindeutig leer. Der Nachbar begnügte sich damit, dass sie vielleicht jemanden besuchten. Doch sie besuchten niemanden.
Sie brauchten nur einen Ort, um allein genug zu sein, um sie selbst zu sein.
Es dauerte länger als beim letzten Mal, bis das Bollern der Heizung den Raum füllte, doch Lina brauchte nichts mehr. Keine Wärme im Raum, nichts zu essen, nichts zu trinken, keine Erinnerung an gestern und keinen Gedanken an Morgen. Ihr Handy war in ihrer Jackentasche, irgendwo auf dem Boden in der Dunkelheit. Alles, was sie brauchte, hatte sie im Arm.
Rebeccas Kopf, ihre schwarzen Haare lagen an ihrer Schulter und Lina versuchte sich ihren Duft einzuprägen. Sie versuchte sich das seichte Streichen von Rebeccas Fingern auf ihrem Bauch einzutätowieren und die Nähe dieses Augenblicks, in dem Rebecca mit jedem Luftzug zwischen ihnen zu weit entfernt war, einzuatmen.
Sie starrte in die Dunkelheit und atmete so tief und dankbar aus, wie nie zuvor. Dankbar für diesen Abend vor Monaten, als sie den Mut gefasst hatte, sie anzusprechen. Jetzt wusste sie, was Glück war. Ein Rausch, den sie hinunterschlang wie Zuckerwatte, ohne jemals satt zu sein und von dem sie gerade nur ahnen konnte, dass er eine kostbare Praline war, die es mit allen Sinnen zu genießen galt. Aber sie ahnte es. Sie ahnte es jedes Mal, wenn Rebeccas Blick sich veränderte. Erst schienen ihre Gedanken abzuschweifen, ihre Augen verloren an Offenheit und wurden prüfender, flehten um eine Garantie. Die Falte zwischen ihren Augenbrauen war Skepsis, eine Manifestation der kleinen Stimme in ihrem Kopf, die sie an die Vergangenheit erinnerte.
Die Falte konnte Lina mit ihrem Daumen glattstreichen, aber gegen diese fiese Stimme des Zweifels schien sie nicht den Hauch einer Chance zu haben.
„Ich liebe dich.“
„Ich dich auch.“
Die Worte kamen wie immer leise, als würde sie sich dafür schämen, hätte Angst ausgelacht zu werden, so als brauchte sie den Schutz der Dunkelheit dafür. Lina spürte Rebeccas warme Lippen auf ihren, ein Kuss wie ein Versprechen, der ewig halten könnte, weil es nichts Besseres auf der Welt gab als diesen Moment. Als Rebecca ihre Lippen löste und sich auf ihrem Ellbogen auf dem Schlafsack abstützte, wusste Lina, dass sie nachdachte, dass sie abwog, ob sie diesen Schritt in ein neues Leben noch einmal wagen konnte. Und Lina hoffte die richtigen Worte zu finden.
Im Licht das aus dem Flur ins unmöblierte Wohnzimmer auf sie fiel, entdeckte Lina die verräterischen Schatten in ihrem Gesicht. „Ja?“
„Glaubst du wirklich, es funktioniert?“
Ein Ja war nicht genug als Antwort, aber es war alles, was sie hatte. „Ich glaube an uns. Du weißt, du kannst mir vertrauen. Ich bin nicht wie die anderen vor mir. Du musst uns nur eine echte Chance geben.“
„Den anderen konnte ich auch eine Weile vertrauen. Ich wette keine von denen hat geglaubt, dass es so schnell vorbeigeht.“
Rebecca blickte in den Flur, zum Licht, dass ihre nachdenkliche Miene beschien. Der Drang etwas zu sagen, dass ihr half diese Entscheidung zu treffen, kroch Linas Arme hoch. „Ich weiß, du wünschst dir eine Garantie und ich wünschte, die könnte ich dir geben.“
Rebecca sah sie an.
„Ich möchte mein Leben mit dir verbringen. Ich sehe all das wovon wir träumen in unserer Zukunft. Die Kinder. Und natürlich den Hund.“
„Wann haben wir uns denn auf den Hund geeinigt?“ Sie lächelte, aber es war nicht so gelöst, wie Lina sich das erhofft hatte.
„Du weißt, dass ich nicht sprunghaft bin, oder?“
Rebecca küsste sie. Ein Kuss, der Gedanken und Sorgen wohl ersticken sollte und sie doch nur übertrug, als sie flüsterte: „Aber du hast so große Träume. Ich bin vielleicht zu alt für diese Träume und wenn du mit mir abends nach der Arbeit vorm Fernseher auf der Couch liegst, dann fühlst du dich von mir vielleicht ausgebremst.“
„Das ist das Schönste, was ich mir vorstellen kann. Wo soll ich unterschreiben?“
„Ja, jetzt noch vielleicht.“ Rebecca erhob sich, um ihre Kleidung vom Boden aufzusammeln und hineinzuschlüpfen. Lina wusste, dass es schon spät war. Sie mussten beide morgen arbeiten und doch wollte sie hierbleiben, in der leeren Wohnung, auf dem harten Boden.
„Das kommt auf einen Versuch an.“ Sie stand ebenfalls auf und zog Rebecca in ihre Arme. Es war ein Gefühl, dem keine der beiden widerstehen konnte. Rebecca lehnte ihren Kopf an sie.
„Ich weiß, dass sich nicht das Problem bin. Sag mir, was ich tun kann, um dir zu helfen und ich tue es.“
„Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen.“
Lina küsste ihre Haare. „Ich werde dich nicht verlassen.“
„Und wenn du es mit mir nicht mehr aushältst?“
„Ich würde ja sagen, dass kann gar nicht passieren, aber ich habe das Gefühl, das Argument gilt nicht. Was ist, wenn Ella dich verlässt?“
Sie schwieg einige Atemzüge, ehe sie sagte: „Ich denke, nach all den Jahren würde sie das nicht tun. Wir sind sowas wie … vierte Klasse, aber keiner erwartet mehr. Du bist erste Klasse und du verdienst nichts anderes.“
„Du bist auch erste Klasse.“
Ein schwaches Lächeln erschien auf Rebeccas Lippen. Es mochte ein Zeichen sein, dass sie sie verstanden hatte, aber nichts verriet Lina, ob sie zu ihr durchdrang.
„Willst du bis zum Ende deines Lebens in der vierten Klasse fahren?“
Rebecca ließ sie los, um sich weiter anzuziehen. Die Falte zwischen ihren Brauen war zurück. „Vielleicht ist das alles, wo ich fahren kann.“
Ihre Worte machten den Raum enger und dunkler und entfernten sie gleichzeitig weiter von Lina. Sie wusste, dass sie diese Art der Entfernung nicht selbst überbrücken konnte. Rebecca musste das alleine tun. So zog Lina sich schweigend wieder an und rollte den Schlafsack zusammen, während Rebecca den Rollladen hochzog und sich am offenen Fenster eine Zigarette anzündete. Ihr Schlüssel steckte von innen in der Wohnungstür. Sie hatte abgeschlossen, wie immer, als befürchtete sie, Ella könnte ihr folgen. Die immer wiederkehrenden Fragen brachten Linas Gedanken zum Schwirren. Hatte sie tatsächlich solche Angst, Ella könnte sie erwischen? Würde sie es jemals schaffen, sich zu trennen und auszuziehen? Der Abend war noch nicht vorbei und dennoch schmeckte sie bereits diese Note der Unsicherheit. Ein Geschmack, der das köstlichste Gericht für sie verderben konnte. Vielleicht wollte sie Ella nur nicht auf diese Art wehtun, in der Wohnung, in der die beiden zusammengelebt hatten. Wahrscheinlich wollte sie das all das erst dann geschah, wenn sie wirklich bereit dafür war.
Lina legte ihren Arm um Rebeccas schmalen Rücken am Fenster. Sie fühlte sich zu zart und zierlich an, um all die Lasten und Schmerzen der zurückliegenden Jahre und die Ungewissheiten der zukünftigen zu stemmen. Der Rauch formte eine große Wolke in der kalten Luft, die sich rasch verflüchtigte.
„Woran denkst du?“
„An mein Bett.“
Sie verließen die Wohnung, so wie sie sie vorgefunden hatten. Kalt, dunkel und unbewohnt. Bloß der verwischte Staub und Dreck am Boden war ein Hinweis auf sie. Der Rest von dem was geschehen war, gehörte nur ihnen. Diese Gewissheit lastete schwer auf Lina, als sie die Treppen hinabstiegen. Würden die Wände irgendwann die Geschichte über sie herunterbrüllen, wenn sie nichts mehr als eine Erinnerung waren, wann immer und mit wem auch immer Rebecca die Wohnung betrat?
Lina wollte die Schwermut loswerden, von der sie nicht einmal wusste, woher sie so plötzlich kam. Es war die Art Bauchgefühl, die sie nicht leiden konnte. Im Radio lief eine spätabendliche Telefonrunde. Die Moderatorin sprach mit einer Anruferin über Angstzustände als Rebecca den Wagen startete. Sie fuhren aus der Stadt hinaus auf dunkle Landstraßen.
„Ich glaube, mir ist jetzt nach guter Musik.“ Rebecca schob grinsend die CD ins Autoradio und Lina erkannte die Weihnachtslieder, die sie für sie zusammengestellt hatte. Rebeccas Hand ruhte in ihrer, die Küsse waren sanft und müde, obwohl Lina sich aufgekratzt fühlte. Sie wollte zu viel sagen, zu viel mit ihren Worten erreichen, als das auch nur ein einziges über ihre Lippen kam.
Rebecca öffnete ihr Fenster einen Spalt, um den Rauch ihrer nächsten Zigarette hinaus zu pusten. Zwei Zigaretten in nicht einmal fünfzehn Minuten. Lina wusste, was das hieß. Sie spürte die Kräfte, die an Rebecca zerrten, die ihre Gedanken schlingern ließen.
Sie kamen an der Tankstelle mit dem Nachtschalter vorbei, wo sie spät in einer heißen Sommernacht gehalten und Lina Bier geholt hatte. Sie erinnerte sich an das Lachen und daran, wie sie auf der Fahrt halb auf der Handbremse gesessen hatte. Rebecca hatte durchfahren wollen, egal wohin, einfach weit weg von hier. Doch die Leichtigkeit des Sommers war verflogen. Sie waren nicht mehr nur so berauscht voneinander, dass die Welt um sie herum aufgehört hatte zu existieren. Sie waren tiefer vorgedrungen, dorthin wo es wehtun konnte, auf eine Ebene, in der sie ihre Welten miteinander teilen wollten, in denen es eine Zukunft gab. Sofern Rebecca genug Mut hatte, das Alte loszulassen, um das Neue greifen zu können.
Die Schwere der Entscheidungen lastete auf ihren Abschiedsküssen, als Rebecca auf den Parkplatz fuhr und neben Linas Wagen hielt.
„Schreib mir, wenn du da bist“, flüsterte sie, ehe sie ausstieg und durch die Kälte zu ihrem Auto hastete.
Rebecca wartete, bis sie eingestiegen war, ehe sie vom Parkplatz fuhr. Die frische Luft, die Lina beim Aussteigen hineingelassen hatte, konnte ihren Kopf nicht klären. Sie wollte sich der Müdigkeit hingeben und schlafen, bis sie in nur sechs Stunden daraus geweckt werden würde. Doch die Scheinwerfer, die ihr in der Nacht des ansonsten verschlafenen Städtchens entgegenkamen und zum selben Automodell gehörten, wie Ella es fuhr, trieben ihr die Müdigkeit schlagartig aus. Sie verrenkte sich den Hals, um auf das Kennzeichen blicken zu können. Wenn Ella das war, würde sie wissen wollen, weshalb sie aus dieser Richtung kam. Aber es war eine ortsfremde Nummer. Und wieso sollte Ella überhaupt um diese Uhrzeit unterwegs sein? Sie lag bestimmt schon im Bett und schlief, ohne sich zu fragen, wo sie blieb. Sie wusste, dass Rebecca spät kam, auch wenn sie nicht den wahren Grund kannte.
Die Erleichterung verflog jedoch ähnlich rasant wie die Atemwolken draußen in der Nacht. Denn als Rebecca kurz darauf auf die Auffahrt vor dem Haus fuhr, stellte sie fest, dass oben in der Wohnung noch Licht brannte. Sie stieg nicht sofort aus. Das tat sie öfter in der letzten Zeit, aber heute war es mehr als der Wunsch nach einem Momente Ruhe, um zu überlegen, wie das alles weitergehen sollte und wie lange sie das noch aushielt, so wie es war.
In den letzten Tagen hatte Ella angefangen Fragen zu stellen. Wo bleibst du, du wolltest längst zuhause sein? Wo warst du? Wieso hängst du schon wieder am Handy?
Auf jede dieser Fragen hatte Rebecca ausweichend geantwortet, mal mehr und mal weniger gelogen. Es waren Hinweise auf Ellas Gedankengänge, Hinweise darauf, dass sich die Schlinge zuzog. Und Rebecca hing mit dem Hals darin und sah keinen Ausweg. Sie strich ihre Haare glatt und betrat das Haus.
Die Weihnachtsdeko und die warme Luft im Wohnungsflur fühlten sich fremd an, als sie die Tür aufschloss. Vielleicht sah sie all das zum letzten Mal. Die Angst trieb sie vorwärts und hielt sie gleichzeitig zurück. Sie schlich in die Wohnung, wie es nur jemand mit schlechtem Gewissen konnte.
„Die Spülmaschine ist kaputt.“ Mit verschränkten Armen saß Ella am Tisch und starrte sie an.
„Seit wann?“ Rebeccas Stimme war dünner als Papier. Sie schritt an Ella vorbei zum Kühlschrank, um sich ein Glas Saft einzugießen. Ella trat neben sie und öffnete die Spülmaschine. Sie redete von Warnlampen, Ruckeln und dreckigem Geschirr. Doch Rebecca hörte kaum hin. Sie trat einen Schritt weg, damit Ella nicht Linas Duft an ihr riechen konnte. Sie wusste, jetzt unter die Dusche zu springen, wo sie sonst nur morgens duschte, war verräterisch, aber sie fühlte Linas Hände und Lippen so sichtbar auf ihrem Körper, dass sie dem Drang kaum widerstehen konnte.
„Was machen wir jetzt?“
„Na erstmal per Hand abwaschen.“
„Das willst du tun? Ich bin dafür, wir kaufen uns sofort eine Neue.“
„Aber nicht mehr heute. Ich bin müde, ich muss ins Bett.“ Sie verspürte einen kurzen Anflug von Schwindel, als sie an Ella vorbeitrat, in Richtung Badezimmer. Sie hatte zu Lina gesagt, sie würde kein Geld mehr in diesen Haushalt stecken, weil dieser Haushalt ein Ablaufdatum haben sollte. Doch dann kamen diese Momente so plötzlich, trafen sie trotz ihrer endlosen Überlegungen unvorbereitet und ihr kam kein Wort der Entscheidung über die Lippen. Und so ließ sie sie schweigend verstreichen. Sie sagte sich, sie brauchte mehr Zeit zum Nachdenken, aber wusste nicht, ob es etwas ändern würde. Konnte Mut wachsen? Oder war es mehr, was sie hier hielt?
„Wie war es heute Abend?“
Die Frage fror Rebecca an der Badtür ein. „Wie immer. Ganz lustig. Wir haben noch ein Bier getrunken und die Zeit vergessen.“
„Wer war denn alles da?“ Ellas Tonlage war verrutscht. Wie eine Frequenz, die Hunden Schmerzen bereitete, spürte Rebecca ihre Eingeweide bei dem Klang verkrampfen. Als sie sich umdrehte trafen Ellas Augen sie wie ein Kinnhaken.
„Dieselben wie immer. Ich habe dir schon mal gesagt, du sollst mich nicht so kontrollieren.“ Sie war nicht wütend genug, um sich selbst zu überzeugen. Der Schreck lähmte ihre Beine und kroch von dort nach oben.
„Wirf das hier nicht weg.“ Ella wandte sich ab und trat auf den Balkon hinaus, wo sie sich eine Zigarette anzündete.
Rebecca könnte das alles so stehen lassen. Sie könnte es als ersten Schritt betrachten, einen von vielen, eine fehlende Antwort von vielen, die Ella eines Tages zu einem vollständigen Bild zusammensetzen und ihre Schlüsse ziehen konnte. Aber ihr Anblick auf dem Balkon, ihr Gesichtsausdruck in ihrer Rauchwolke hinter der Scheibe, irgendetwas in ihr, ließ das nicht zu. Die Linien und Grenzen verschwammen, als sie hinaus auf den Balkon ging. Wen betrog sie mit wem? Wem machte sie etwas vor? Vielleicht am meisten sich selbst, wenn sie glaubte jemals eine Entscheidung treffen zu können. Sie fing die Diskussion mit Ella an, die nötig war, um das Thema zu verschieben, um die Last von ihrer Brust zu nehmen, die ihr die Luft abschnürte. Sauer auf Ella, wohlwissend, dass sie sich selbst damit meinte, stapfte sie dann ins Bad, um Lina eine gute Nacht über das Handy zu wünschen. Allein ihren Namen zu lesen versprach Linderung und beruhigte. Rebecca legte sich schweigend zu Bett, doch in ihrem Kopf war es laut. Sie wünschte sich Lina neben sich, ohne Ella verletzten zu müssen. Sie wünschte sich, dass Lina jemand besseren fand, ohne, dass Rebecca ihr jemals wehtat. Sie wünschte sich, zu wissen was sie tun sollte und wusste doch, dass die Zeit alles regeln würde. Und bis dahin war das Wichtigste, zu funktionieren. Der Gedanke ließ sie endlich einschlafen.
Ella hatte den Vorabend noch nicht ganz aus ihren Gliedern geschüttelt. In jedem unachtsamen Moment auf der Arbeit tröpfelte es in ihr Bewusstsein, vergiftete ihre Gedanken und flutete sie mit Vorstellungen, die mehr schmerzten als alles, was sie kannte. Sie wollte die Zeichen ignorieren können. Rebeccas am Handy fest getackerter Blick und das Aufleuchten ihrer Augen, sowie das Heben ihrer Mundwinkel, wenn sie glaubte, Ella sah es nicht. Sie wollte die Mauer zwischen ihnen wegdenken, die Streits und die Abweisungen erklären. Doch die Erinnerungen an ihr Verhalten damals machten ihr einen Strich durch die Rechnung. Sie trieben ihr Wut in den Bauch und Angst in die Brust. Sie fand die Worte nicht, um Rebecca wissen zu lassen, dass sie bei ihr bleiben sollte, nach allem was sie schon gemeinsam erlebt hatten. Ihr fiel nur ein, dass sie nicht allein sein wollte, nicht diese Art Gespräch mit ihrer Familie führen und sich eigentlich auch niemand anderes suchen wollte. Es funktionierte doch, was sie hatten, auch ohne Argumente dafür.
Sie waren mittlerweile eine Familie geworden und auch nur der Gedanke daran, ihr keine Zeitung mehr mitbringen zu können, nicht mehr von ihr bekocht zu werden, sich nicht mehr über ihre Familie ärgern zu können, ließ ihr Leben leer erscheinen. So tat Ella das Einzige, was sie tun konnte. Sie dachte nicht mehr darüber nach.
Beim Einkaufen nach Feierabend hatte sie es fast abgestreift. Sie würde mit ihren Eltern essen und kam mit einem vollgepackten Einkaufskorb an die Kassen. Alle waren vorweihnachtlich voll. Sie stellte sich an die erstbeste, ohne darauf zu achten, wer vor ihr stand. Erst als sie sich vorbeugte und das Band belud, erkannte sie die Frau vor ihr. Sie hatte sie schon einmal gesehen, im Gespräch mit Rebecca. Jetzt war es anders. Die Frau erwiderte ihren Blick, keinen Meter von ihr entfernt. Ella konnte nicht sagen, wie lange der Moment andauerte, doch es war lange genug, damit einen von ihnen mit einem Lächeln und einem kurzen Hallo signalisieren könnte, dass sie sich kannten, schon einmal gesehen hatten. Doch nichts geschah. Sie starten sich an, bis sich die Schlange vorwärtsbewegte. Die Frau wandte sich nach vorne und Ella starrte auf ihren Rücken.
Sie fühlte sich zurückgewiesen und sie wollte sich nicht so fühlen. Wenn überhaupt, hatte sie ein Recht darauf, die andere zurückzuweisen. Sie hatte nichts Falsches getan. Aber die Hoffnung, sich doch mit allem zu irren, wollte bestätigt werden.
Ella bezahlte hastig ihre Einkäufe und stürzte hinaus auf den eisigen Parkplatz. Die Frau war gerade dabei in ihren Wagen einzusteigen, als Ella auf sie zueilte.
„Hallo? Wir kennen uns, oder?“
Über ihre Tür hinweg, sah die Frau sie an. „Nicht so wirklich.“
„Doch du bist … Lina, richtig? Ich habe dich auf dem Sommerfest gesehen und singen gehört.“
„Mag sein.“ Sie wollte einsteigen, ohne ein einziges Wort zu ihr zu sagen. Sie war unfreundlich und dabei hatte Rebecca gesagt, sie wäre eine sehr nette Frau. Ihre Eingeweide krampften.
„Du kennst Rebecca, oder? Ihr seid zusammen beim Sport.“
Lina senkte ihre Augen und damit senkte sich auch etwas in Ella. Sie wollte es nicht ausgesprochen hören. Etwas auszusprechen hieß, es war real, es saß für jeden sichtbar in der Luft und verlangte von ihr damit umzugehen. Und sie wusste nicht, ob sie es konnte. Sie wollte weitergehen, es unter den Tisch kehren, doch in ihren Beinen kam der Befehl nicht an.
„Wieso fragst du mich das und nicht Rebecca?“
„Ich habe sie schon gefragt. Das war ihre Antwort. Ihr versteht euch gut? Wir könnten ja mal alle zusammen …“
„Hör auf.“ Es war ein Flüstern, eines das genügte, um Ella zum Schweigen zu bringen. Lina holte Luft und entließ dann eine Nebelwolke in die Dunkelheit. „Ich will nicht … Lass das einfach. Schönen Abend noch“, murmelte sie, ehe die Tür zuschlug.
Es dauerte einige Augenblicke, ehe sie den Motor startete, doch Ella konnte nicht sagen, ob sie sie anblickte. Das Fenster war nass. Als sie die Autoabgase einatmete, drehte sie sich um. Ihre Bewegungen beim Einladen ihrer Einkäufe waren vorsichtig und mechanisch, als könnte jede zu hastige Bewegung dazu führen, dass sie zusammenbrach. Der Blick der Frau durchbohrte sie noch immer. Sie wollte nicht darüber nachdenken und gleichzeitig wollte sie von Rebecca hören, weshalb Lina so abweisend auf sie reagierte.
Als die ersten Schneeflocken fielen, stieg sie ein und fuhr los. Sie fuhr schnell, die Fragen drückten ihren Fuß auf dem Gaspedal nach unten. In der Wohnung brannte Licht. Ella eilte durch das Schneegestöber nach oben. Sie wusste genau, was sie fragen wollte, als sie zwei Stufen auf einmal nehmend nach oben eilte. Sie würde wissen wollen, was diese Lina gegen sie hatte, weshalb Ella sie nicht kennen lernen durfte, weshalb sie unfreundlich war und nicht zum Essen kommen wollte. Als sie die Wohnungstür öffnete, lag Rebecca auf der Couch, ein Bier in der Hand, aus dem Fernseher kam der Lärm ihrer Lieblingssendung.
Es war ein Anblick so vertraut, so heimelig, dass er ihr jedes Wort abschnürte.
„Hast du alles bekommen?“
Sie nickte auf dem Weg in die Küche. Ihre Sicht verschwamm.
„Meine Schwester hat uns zu ihrem Geburtstag am nächsten Wochenende eingeladen.“ Sie fragte nicht, ob ihr das passte. Es war unnötig. Sie tauchten überall zusammen auf. Sie waren eine Familie.
„Okay.“ Ella räumte die Einkäufe ein. Mehr kam nicht über ihre Lippen. Sie wollte nicht aufs Spiel setzen ihr zuhause zu verlieren. Rebecca war hier, das war alles, was zählte. Es funktionierte. Das hier, war besser, als für den Rest ihres Lebens in eine leere Wohnung zu kommen. Der Lack war ab. Besseres erwartete sie nicht mehr.
Sie würde es aussitzen.
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