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Verräterisches Origami

„Was ist das denn?“

Der Kaffee hatte Clara noch nicht so weit gebracht, dass sie zu mehr imstande war als einem Aufblicken von der Couch. Daniel hatte Schneereste in seinen Haaren und nasse Flecken waren auf der Zeitung. Seine Verwunderung schien jedoch dem gefalteten Papier in seiner anderen Hand zu gelten.

„Ist das ein... Frosch?“ Er gab ihr das weiße Papier, das tatsächlich Ähnlichkeit mit einer Kröte oder einem Frosch hatte. Er war nass und weich in Claras Händen.

„Gehört das zur Zeitung?“

„Wohl kaum, ich schmeiß es weg.“

Clara zog ihre Hand zurück. „Der sieht doch ganz süß aus.“ Daniel zog eine Augenbraue nach oben. „Das ist ein Stück Papier. Seit wann findest du sowas süß?“

„Lies deine Zeitung.“ Mit einem Seufzen legte Clara das gefaltete Tier auf den Sofatisch und nahm die Fernbedienung in die Hand, als wäre sie gewillt umzuschalten, tatsächlich bereit etwas zu ändern. In Wahrheit wartete sie nur darauf, dass ihr Freund im Bademantel am Esstisch Platz nahm und bei seinem Tee die Zeitung las. Sie musste einen Augenblick mit ihren Gedanken allein sein, ihre Erinnerungen zulassen. Es kam ihr immer wieder vieles in den Sinn, ergriff von ihrem Körper Besitz, der die Momente, alles was sie geteilt hatten gespeichert zu haben schien. Ein Bild in ihren Gedanken ließ sie die Berührungen wieder spüren und die bedeutungsschweren Worte, die so leicht auszusprechen gewesen waren, wieder hören. Der Abend, an dem Joshua ihr zugeflüstert hatte, welche Botschaften den Origamifiguren innewohnten und wie romantisch Zeichen waren, die in die Welt hinausgegeben wurden, nur damit eine Person sie verstand, zog sie weg von diesem ruhigen Sonntag, in eine andere turbulente, bunte Zeit. Doch die Leichtigkeit in ihr gewann jäh an Schwer­kraft, als Daniels Stimme an ihre Ohren sauste.

„Schau mal, es gibt sogar einen Artikel der größer ist, als der über den Winterball. Die Rückkehr von unserem Sportstar. Joshua Godorn lehrt den Kindern im Ortsverein ihren Traum zu leben.“

Claras Blick rutschte von der Fernbedienung. Sie wusste nicht, ob sie ihren Ohren trauen konnte aber der Schock, der sie ihren Hals nur in Zeitlupe drehen ließ, sagte ihr, dass sie richtig gehört hatte. Daniels Blick streifte sie, über den Rand seiner Teetasse hinweg. Es war ein Test. Es war noch immer ein Test. Denn auch nach all den Jahren war eine Beule unter ihrem Teppich, gefüllt mit all dem Ungesagten. Meistens lief ihr Alltag darum herum, sie waren vorsichtig und geübt im Umgang miteinander. Aber hin und wieder stolperten sie darüber und schienen beide für einen Moment innezuhalten. Doch keiner bückte sich, um den Teppich anzuheben. Sie würden beide verlieren.

Daniel las weiter. Clara drehte ihren Kopf wieder. Sie fühlte sich nicht sicher, zu denken was sie dachte, doch der Zeitungsartikel, sowie der Anblick des Origamifroschs auf dem Sofatisch, weckten eine Hoffnung in ihr, von der sie geglaubt hatte, sie würde nicht mehr existieren. Und dieses Mal, machte ihr die Hoff­nung keine Angst.

 

Der Schneefall hörte auch am nächsten Tag nicht auf, doch Claras Gedanken hatten sich bereits früh am Montagmorgen um anderes drehen müssen, als den Origamifrosch und die Ankündigung in der Zeitung.

Sie hatte nicht einmal Zeit für ein Mittagessen gehabt und hatte auch um acht Uhr abends noch einiges auf ihrer Liste. Die Erholung vom Wochenende schien bereits mit dem Klingeln des Weckers verflogen zu sein und sie beschloss, früher Feierabend zu machen. Erst auf dem Weg durch das Schneetreiben zu ihrem Auto kehrten die Gedanken an den Frosch zurück. Sie würde gerne wissen, wo Joshua war und wie es ihm ging. Von ihm persönlich, nicht aus dem Inter­net oder der Zeitung. Sie hatte sich ohnehin verboten, etwas nachzulesen. Es war besser, so wie es jetzt war. Absolute Funkstille war weniger quälend. Clara hatte bloß noch Energie, nach Hause zu fahren, etwas Schnelles zu essen und dann auf der Couch einzuschlafen. Es war nicht auszudenken, wie es wäre, zuhause auf Joshua zu treffen und seine Erwartungen an eine Beziehung erfüllen zu müssen. Die einzige Erwartung die Daniel an sie stellte, war die, nach Hause zu kommen. Clara ließ sich von ihrer Müdigkeit davontragen, als sie ihren Wagen aufschloss und ihren Rucksack auf den Beifahrersitz warf. Sie wollte sich gerade hineinsetzen, als ihr Blick auf die Scheibenwischer an ihrer Windschutzscheibe fiel, auf der eine dünne Schneeschicht lag. Etwas fiel ihr ins Auge, etwas Weißes, anders als der Schnee, mit härteren Konturen. Sie griff mit ihren Fingern in das kalte Weiß und zog ein ge­faltetes Stück Papier hervor, das unter ihrem Scheibenwischer festgeklemmt gewesen war. Der Schnee erhellte das Licht der Straßenlampen. Es war eine Origamifigur. Eine Figur die aussah wie eine Blüte. Eine Lotusblüte. Clara betrachtete sie einen Moment, dann druckte sie die Blüte an ihre Nase. Sie erwartete nicht, etwas zu riechen, noch zu wissen, was das bedeuten sollte. Aber sie hielt einen Moment inne, einen Moment, in dem sie sich fragte, ob es wirklich so sein konnte. Und was hier gerade passierte. Clara stieg ein und verwahrte die Lotusblute in ihrem Becherhalter.

 

Der Winterball im Ort war nichts, was Clara sonder­lich interessierte. Aber sie hatte eingewilligt, mit Daniel zu seiner Mutter zu gehen und die Eintöpfe zu probieren, die sie an ihrem Stand anbieten wollte. Sie wusste, dass das Geschwätz der beiden sie von ihren Gedanken ablenken würde und dass nichts zu essen im Haus war. Die Eintöpfe ihrer Schwieger­mutter in spe waren der Hauptgrund gewesen, mitzugehen.

„Das ist ein Kartoffeleintopf. Mir schmeckt der am besten, aber ich bin auf eure Meinung gespannt.“ Rosalie stellte die Schüsseln vor Daniel und Clara und setzte sich zu ihnen an den Küchentisch.

„Noch etwas Rot­wein?“

„Für mich nicht, danke.“

„Ja, bitte.“

Clara sah Daniel erstaunt an. „Du fährst.“

„Das bisschen Wein zum Essen.“ Daniel winkte ab und ließ sich von seiner Mutter einschenken. Clara sah kopfschüttelnd hinab in ihren Eintopf und pustete auf ihren Löffel. Es war ohnehin sinnlos mit ihm zu reden, alles was über das sichere Alltägliche hinausging, war sinnlos. Während Rosalie in ihrer albernen Schürze von den Planungen für den Ball in der großen Scheune und auf dem Platz davor begann, schweiften Claras Gedanken ab, zurück zu den Origamifiguren. Es war einige Tage her, seit sie die Lotusblüte an ihrem Scheibenwischer gefunden hatte und sie war nicht sicher, von wem sie kamen. Sie hätte nachforschen können, was sie bedeuteten, doch sie wusste nicht, ob sie es wissen wollte.

Joshua würde etwas erwarten und so sehr sie diese Erwartungen auch endlich erfüllen wollte, sie hatte noch immer keine Ahnung, ob sie dem gewachsen war. Ob sie es wirklich wagen konnte.

„Habt ihr denn schon gehört, dass unser Starathlet auch am Winterball teilnehmen wird?“ Rosalie putzte ihre Brille und sah die beiden mit verwund­baren Augen an. Clara verbrannte sich die Zunge. Sie spürte ihr Ohr unter Daniels Blick brennen, doch sie sah nicht auf.

„Am Glühweinstand des Sportvereins, oder was?“

„Da wird wohl jeder gerne aushelfen. Aber ich glaube er hilft beim Puck- oder Eisstockschießen für die Kinder aus. Wahrscheinlich sind das alles PR-Maßnahmen, zu denen sein Manager geraten hat.“ Clara sah Rosalie Abwinken. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es Joshua darum ging und sie könnte genug von ihr erzählen, damit auch Rosalie eine Ahnung davon bekam, was für ein Mensch Joshua war. Aber sie tat es nicht und die Scham darüber verdarb ihr schlagartig den Appetit. Sie schob ihre Schüssel einige Zentimeter von sich und putzte sich den Mund mit der Serviette ab.

„Aber ihr werdet es nicht glauben“, begann Rosalie plötzlich und klatschte ihre Hand auf ihren Oberschenkel. „Als ich heute Morgen in die Scheune kam, lagen da überall so Faltereien herum. Wie heißt das nochmal? Origami?“ Sie stand auf und lief zu ihrer Handtasche. Daniel zog seine Stirn in Falten, als er Claras Blick begegnete.

„Haben wir da einen Trend verpasst?“ Clara zuckte mit den Schultern und hoffte, dass ihr das Herzrasen nicht anzusehen war.

„Ist das ein Kranich?“ Rosalie legte einen Origamikranich vor die beiden auf den Tisch. Clara nahm ihn in die Hand, spürte die scharfen Falten an ihren Fingern.

„Es lagen bestimmt tausend Stuck davon in der Scheune. Die meisten haben wir weggeworfen, aber den wollte ich behalten.“

„Wer macht denn so etwas?“, fragte Daniel. Rosalie hob ratlos die Schultern. „Jeder, der einen Stand auf dem Winterball hat, hat einen Schlüssel.“

Clara hörte die Worte, doch sie wollte deren Bedeutung noch nicht an sie heranlassen, Es wäre zu schön, um wahr zu sein. Und Daniel würde es ihr ansehen. „Wir hatten neulich auch so ein Tier vor der Haustür. Was war das noch, Clara?“

„Keine Ahnung. War das nicht auch so was?“ Sie ließ den Kranich los und hoffte, den Test bestanden zu haben.

„Seltsam. Haben die verschiedenen Tiere nicht eine Bedeutung?“

Clara fing ihren Blick auf. Sie sagte nichts, doch in ihrem Kopf begann es zu rattern. Vielleicht würde sie so die wahre Bedeutung dieser Sache herausfinden.

 

Die Müdigkeit ließ Clara ihre Umgebung seltsam dumpf wahrnehmen. Die Sonne am wolkenlosen Himmel ließ die Schneeberge am Supermarktparkplatz glitzern, die eisige Kälte war an den dick eingepackten Menschen und ihren frostigen Atemwollen zu erkennen. Clara entdeckte die Plakate für den Winterball, die sie bereits seit Wochen sah und nicht mehr richtig wahrnahm. An diesem Mittag nahm sie außer Müdigkeit und ihrem Hunger über­haupt nichts wahr. Sie stieg mit dem Gedanken an ein heißes und schnelles Essen aus ihrem Wagen, doch sie hatte kaum einen Schritt getan, als sie im Augenwinkel die einzige Person erspähte, die sie von ihren eigenen, brennenden Haaren ablenken könnte.

Und sie erkannte ihn sofort. Auch nach all den Jahren.

Auf dem zugefrorenen See neben dem Parkplatz, durch eine hüfthohe Mauer aus Schnee vom Asphalt getrennt, waren zwei Eishockeytore geschoben worden und eine Gruppe Kinder versuchte auf Schlittschuhen und mit Schlägern in der Hand, den Puck zu treffen und in die richtige Richtung zu bugsieren. Und inmitten der Kinder stand Joshua. Er blinzelte in die Sonne, während er den Kleinen ermunternde Worte zurief und hatte wahrscheinlich keine Ahnung, wie hinreißend er aussah.

 

Seine Haare sausten im Wind, sein Körper war athletischer denn je und als sein Blick ihren traf und verharrte, lächelte er mit diesem warmen Lächeln, das Clara den kalten Wind nicht mehr spüren ließ. Er sah gereift aus. Clara zögerte. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte, ob es überhaupt etwas zu sagen gab. Alles an was sie denken konnte, war die Bedeutung der unterschiedlichen Origamifiguren, nach denen sie gestern endlich gesucht hatte. Und das trieb ihre Beine schließlich vorwärts.

„Hi“, seine Stimme klang so mitgenommen, wie Clara sich fühlte.

„Du bist wieder hier?“

„Ja. Ja, seit einigen Wochen schon. Und ich bin froh darüber.“

Sein Lächeln war schüchtern, suchte ihren Blick. Es war der Moment, um zu sagen, dass sie die Origamibotschaften bekommen hatte. Auch die Taube im Briefkasten, die sie vor Daniels Blick hatte verbergen müssen. Und dass sie nun die Bedeutung der Figuren kannte. Der Frosch hatte für seine Rückkehr gestanden, die Lotusblüte für den Neubeginn, die Taube für ewiges Vertrauen und Glauben. Und die 1000 Kraniche ließen ihr einen Wunsch frei. Clara wollte ihm sagen, was es ihr bedeutete, all diese Botschaften erhalten zu haben, wollte ihm sagen, dass sie verstehen wollte, was hier vorging. Aber ehe sie den Mund aufmachen konnte, hörte sie wieder diese leisen Zweifel, die ihr die Kehle emporkrochen. Er war ein Star, er musste seinen Traum leben. Und sie hatte sich dagegen entschieden, mitzuhalten. Damals. Sie brauchte Zeit. Sie konnte nichts garantieren, weder für heute noch in der Zukunft. Clara verbot sich, etwas zu erwidern.

„Wie gehts dir denn?“ Joshuas Stimme brachte sie dazu, ihr Kinn wieder zu heben. In seinen Augen lag nichts Drängendes, nichts was eine Antwort auf die Origamifiguren forderte. Clara spürte, wie sich ihre Brust weitete, erlöst von etwas, das sie nicht näher beschreiben konnte.

„Viel Arbeit. Du weißt ja, immer dasselbe bei mir. Und wie gehts dir? Ich ... Ich habe dich viel im Fernsehen gesehen.“ Erst als die Worte ihren Mund verlassen hatten, wurde ihr klar, was sie da gesagt hatte. Das Eis war brüchig geworden und ließ das kalte Seewasser frei, voll all der unausgesprochenen Dinge zwischen ihnen, das Clara in die düstere Tiefe ziehen könnte.

Auch er blinzelte ein wenig zu häufig, ehe er entgegnete: „Ja, ich ... hatte ein bisschen gehofft, dass du das hast. Du hast es mir immer prophezeit. Gesagt, ich soll raus in die weite Welt und mein Glück versuchen.“

Clara senkte ihre Agen. Das Wasser stand ihr bis zu den Knöcheln, doch sie sah nichts, außer den Erinner­ungen an damals. Joshuas Beteuer­ungen. Clara hatte das Risiko für sie abwägen wollen und entschieden, dass er etwas aus seinem unglaublichen Talent machen musste, anstatt ihretwegen in dieser kleinen Stadt zu bleiben. Er hatte es getan. Und jetzt war er wieder hier.

„Ich bin stolz auf dich“, murmelte sie.

„Ich weiß. Aber so schön die Zeit auch war, es gibt Wichtigeres im Leben. Und das wusste ich damals schon. Deshalb bin ich wieder hier.“ Das Wasser stieg unaufhörlich und Clara musste es unterbinden. Als sie im Augenwinkel eine schwangere Frau entdecke, die Richtung Eisfläche ging und wahrscheinlich ihr älteres Kind abholen wollte, sagte sie: „Ich muss weiter. Ich habe nicht lange Pause.“

„Oh. Okay. Sehen wir uns auf dem Ball?“ Clara war schon einige Schritte entfernt und nickte ein undeutliches Nicken. Nichts, auf das er sie festlegen konnte.

 

„Hast du alles bekommen?“ Sie hatte mehr als das bekommen, doch sie schwieg, als sie mit der Einkaufstüte hereinkam. Daniel räumte den Papiermüll zusammen. „Hier ist dein Joghurt.“ Sie stellte es in den Kühlschrank, doch den Rest in der Tüte ließ sie unberührt stehen. Sie dachte nicht darüber nach, was noch gekühlt werden musste, sie war mit ihren Gedanken bei der Origamiblume, die nach dem Einkauf auf ihrer Motorhaube gewartet hatte. Es sah nach einer Lilie aus und sie wusste bereits, für was sie stand. Sie stand für die Liebe. Und die Worte, die auf das Papier am Stängel gedruckt worden waren, bedeuteten Ärger. Oder zumindest eine Veränderung dieses Zustandes, in dem sie sich befanden. Clara hatte geglaubt, sie wäre dafür bereit, aber die Angst, die ihren Magen rebellieren ließ und sie in Richtung Bad trieb, schien ihr etwas anderes zu sagen.

„Willst du das nicht wegräumen?“ Mit einer alten Zeitung in der Hand deutete Daniel auf die Einkaufstüte.

„Gleich. Ich muss …“

„Dann vergisst du es nur wieder. Da ist Fleisch drin.“

„Dann räum du es doch weg.“

„Wie du meinst“, seufzte Daniel. „Hast du den Artikel über Joshua Godorn hier gelesen? Ich werfe die Zeitung sonst weg.“ Clara starrte ihn an. Daniels Blick hatte etwas Bohrendes, als wollte er ihr mit dieser Frage etwas mitteilen. Es kostete Clara alle Kraft, ihre Mimik nichts verraten zu lassen.

„Wieso sollte ich diesen Artikel lesen? Wirf die Zeitung weg!“

Ohne Daniels Reaktion abzuwarten, ging sie ins Bad und verschloss die Tür hinter sich. Sie trug noch ihre Jacke, aus der sie die Lilie nun hervorzog. Klein aber doch gut sichtbar stand auf dem Stängel geschrieben: Komm morgen auf dem Ball um 8 Uhr hinter den großen Glühweinstand.

Clara richtete ihre Augen auf ihr Spiegelbild. Sie meinte, ihre Nervosität hinter ihren Pupillen pulsieren zu sehen. Sie wusste nicht, was sie dort erwarten würde, aber sie wusste, dass sie dort auftauchen würde.

 

Das Wetter hätte nicht besser zum Winterball passen können. Der Schnee rieselte dicht und leise im Schein der Lichterketten, die die vielen Buden behangen. Es duftete nach gebrannten Mandeln, Schokolade, Crêpes und heißen Brat­würsten. Vor allem der Glühweinduft wurde intensiver, je näher Clara der langen Holzbude kam. Stimmen und Lachen summte durch die Kälte. Es war voll, doch der Platz und die Scheune boten der kleinen Stadt genug Platz. Der Schnee knirschte unter ihren Schritten, während sie sich noch einmal umsah. Doch Daniel war jetzt in der zugigen Scheune und leitete den Stand seiner Mutter. Mit dem Mut, den ihr die zwei Glühwein bescherten, trat sie zwischen dem Kerzen- und dem Glühweinstand nach hinten, hinter die Holzwände der Buden. Ein Mann mit Schürze kam aus einer Hintertür und stapfte durch den hier höher liegenden Schnee davon. Clara sah sich um ihr Herz schlug schmerzhaft in ihrem Brustkorb, voller Angst vor dem, was jetzt passieren würde. Sie sah eine Gestalt um die Ecke biegen und auf sie zukommen. Doch ihr Lächeln gefror auf ihren Wangen, als sie erst die Größe und Figur der Gestalt zusammensetzte und dann ihr Gesicht erkannte, als sie die Kapuze von ihrem Kopf schob.

„Was machst du denn hier?“

„Du hast jemand anderen erwartet, nicht wahr?“ Rosalies Blick war so eisig wie der Schnee in Claras Gesicht.

„Nein, ich …“ Die Gewissheit traf sie schlagartig und begrub sie unter sich, wie eine Lawine. Sie zog die Luft ein, kein Wort wollte aus ihrer Kehle kommen, ihre Gedanken stockten.

„Du warst das?“

„Jede einzelne Origamifigur war von mir. Und die Geschichte über die 1000 Kraniche habe ich erfunden. Ich war mir sicher, dass du die Bedeutung verstehen wirst.“ Rosalie unterbrach sich und zog aus ihrer Handtasche etwas hervor. Clara konnte sich nicht bewegen, nichts erwidern, bis sie die Briefe in Rosalies Hand entdeckte.

„Woher hast du die?“

„Aus dem Schrank in eurem Keller. Ich habe meine Gartengeräte gesucht, die ich Daniel geliehen hatte und das hier gefunden. Liebesbriefe von Joshua Godorn an dich. Aus den letzten Jahren, als du schon mit Daniel zusammen warst. Du hast meinen Sohn betrogen.“ Sie warf die Briefe vor sich in den Schnee. Clara schluckte. Dann bückte sie sich und sammelte die Briefe hastig auf.

„Das stimmt so nicht. Hast du es ihm …“

„Nein. Das ist nicht meine Aufgabe. Aber ich habe ihn ein bisschen ausgefragt. Er vermutet, dass du noch etwas für ihn übrighast. Also dachte ich, ich teste dich.“

„Ich ... Wieso tust du das?“

Rosalie machte einen Schritt auf sie zu. „Ich will, dass du eine Entscheidung triffst. Entweder er oder mein Sohn. Aber diesen Zustand, in dem du neben Daniel liegend an einen anderen denkst, gibt es jetzt nicht mehr. Er will dich heiraten. Aber so lasse ich das nicht zu.“

„Das ist nicht so einfach.“

„Wenn du nichts unternimmst, verlierst du beide. Joshuas Freundin ist schwanger und alle fragen sich, wann die beiden sich verloben.“

Clara spürte ihr Gesicht taub werden. „Was? Er hat …“

„Es stand alles in dem Artikel, es war in Berichten im Fernsehen. Du wolltest es nicht wahrhaben. Wenn du an ihn denkst, lebst du in deiner eigenen Welt und nimmst alles so wahr, wie es für dich am erträglichsten ist. Du wolltest, dass diese Origamifiguren von ihm waren. Du liebst ihn.“

Clara wurde schwindlig. Sie dachte an die schwangere Frau, die auf Joshua zugegangen war, beim Eishockeyspiel der Kinder. Und sie dachte an das Leuchten in seinen Augen, seine Worte.

„Aber, wenn er … Woher soll ich denn wissen …“

„Finde es raus. Geh zu ihm und kämpf um ihn, wenn es das ist, was du möchtest oder schlag ihn dir aus dem Kopf und bleib bei meinem Sohn. Aber steh ihm nicht im Weg und raub ihm die Chance auf die Liebe. Du hast Zeit bis heute Abend nach dem Ball.“ Rosalie machte auf dem Absatz kehrt und stapfte davon.

Clara starrte ihr hinterher. Wie sollte sie eine Entscheidung in wenigen Stunden treffen, die sie jahrelang nicht bewusst hatte treffen können? Sie wusste nicht, was sie behalten und was sie verlieren wollte. Sie wusste nur eines.

 

Mit hastigen Schritten folgte sie Rosalie und griff nach einer Eisenstange im Schnee, die zum Aufbauen der Buden gebraucht worden war.

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