Die aufgehende Sonne tauchte die ostwärts ausgerichteten Wohnungen der Seniorenwohnanlage „Gipfelresidenz“ in orangefarbenes Licht. Charles Askill goss sich eine Tasse Kaffee ein und trat damit auf seine Terrasse. Die aufgehende Sonne schien ihm bereits warm ins Gesicht. Er trat auf seine Blumenkästen zu und tat so, als würde er seine Rosen betrachten. Doch in Wahrheit, schielte er in die Wohnung gegenüber, gut 50 Meter entfernt, jenseits des Innenhofs.
Vor den Fenstern auf dieser Seite waren mehr Gardinen noch Rollläden angebracht und so sah er den Mann, der neu eingezogen war, seinen Frühstückstisch decken. Er erspähte Bilder an den Wänden, aber ohne Fernglas, aus diesem Winkel, war es unmöglich zu erkennen, welche Bilder es waren, ob die Motive, mit denen auf den Fotos übereinstimmten. Er musste warten, bis der Mann seine Wohnung verließ und er sich unauffällig mit dem Fernglas positionieren konnte. Nach Charles bisherigen Ermittlungen sollte das in spätestens einer Stunde der Fall sein, wenn er zum Einkaufen in den Supermarkt nebenan ging.
Es klingelte an Charles' Tür. Er ging zurück in seine Wohnung, um die Tür zu öffnen und wie er es erwartet hatte, Dr. Judith Schwenker gegenüberzustehen, der ehemaligen Ärztin aus dem Erdgeschoss. „Und? Konnten Sie schon etwas herausfinden?“ Sie trat ein. Sie war ein Jahr jünger als er und ging langsam in Richtung Terrasse, um in die Wohnung gegenüber zu spähen.
„Bisher noch nicht. Ihr Ex- Mann frühstückt gerade. Ob er wirklich im Besitz dieser Bilder ist, können wir erst herausfinden, wenn er sich aus der Wohnung bewegt.“ Die Frau sah nicht überzeugt aus. Sie kniff ihre Lippen zusammen.
„Vertrauen Sie mir, ich habe lange genug als Privatdetektiv gearbeitet, um mein Handwerk zu kennen. Was halten Sie davon, wenn wir auch erst einmal frühstücken? Es ist doch schöner in Gesellschaft zu essen.“
Sie sah noch immer mit überzeugt aus, doch sie willigte ein. Charles rührte sein Müsli an und briet zwei Spiegeleier zum Kaffee. „Für welches Fachgebiet wann Sie nochmal Ärztin?“, fragte er und spülte die Reste seines Müslis mit einem Schluck seines Kaffees herunter.
„Ich war Kinderärztin. Und mein Mann war Neurologe. Wir haben uns schon im Studium kennen gelernt. Wir waren fünfundzwanzig Jahre verheiratet.“ Sie legte ihre Gabel etwas zu laut auf dem Tisch ab, ihr Blick wanderte nach draußen zum Fenster, wo sich die Sonne am Himmel emporhob. „Wieso haben Sie sich scheiden lassen?“ Sie zögerte mit der Antwort.
„Ich bin zwar ein pensionierter Privatdetektiv, aber immer noch ein Detektiv und genau so jemanden brauchen Sie ja, wenn ich Frau Meier richtig verstanden habe. Das ist es, was wir tun.“
Sie seufzte. „Aufgrund einer Anwältin. Deren Kollege ihn dann bei unserer Scheidung vertreten hat.“ Charles erhob sich, um seine Medikamentendose zu holen. Seine morgendlichen Pillen waren in einem Fach mit einer aufgehenden Sonne untergebracht.
„Und vor dieser Scheidung hat er dann die Gemälde und Möbel verschwinden lassen?“
„Es gab einen Einbruch bei uns, als wir beide beruflich über das Wochenende weg waren. Er kam nach mir nach Hause. Der Hockney war weg, den ich von meiner Großmutter geerbt hatte, das teure Porzellan und die Kommode. Das meiste hat wirklich einen hohen materiellen Wert und der Rest hat einen emotionalen Wert für mich.“ Sie aß mit gesundem Blick ihren Teller leer, während Charles seine Tabletten nahm.
„Und Sie haben ihm die Sache mit dem Einbruch nach der Affäre und der hässlichen Scheidung geglaubt?“ Er sah sie schlucken. Für einen Augenblick war das Ticken seiner Uhr das einzige Geräusch im Zimmer.
„Ich dachte... Ich hätte nie gedacht, dass er mir so etwas antut. Trotz allem. Er hat das Geld nicht nötig gehabt und keinen Wert in diesen Sachen gesehen.“
„Hatten Sie nach der Scheidung noch Kontakt?“ Dr. Schwenker schüttelte den Kopf. „So wie das auseinander gegangen ist, hatten wir keinen Grund mehr zu reden. Wir haben unsere Freunde aufgeteilt und sind nicht mal mehr auf denselben Feierlichkeiten aufgetaut. Ich habe ihn jahrelang nicht mehr gesehen.“
„Bis auf letzte Woche?“ Sie nickte. .“Als im Innenhof der Laster vorgefahren ist und... meine Möbel in seine Wohnung geschleppt wurden!“ Sie ballte ihre von Altersflecken übersäte Hand zur Faust. „Wir kriegen das schon wieder hin. Haben Sie die Liste mit den Gegenständen gemacht? Dann schauen wir mal, was er davon in seiner Wohnung hat.“
Hätte Dr. Alexander Schwenker gewusst, dass seine Ex-Frau in der „Gipfelresidenz“ lebte, dann wäre er wohl nicht eingezogen. Das vermutete Charles zumindest. Doch vielleicht kannte die Arroganz dieses Mannes keine Grenzen. Er trat mit Dr. Schwenker auf seinen Balkon, nachdem sie gesehen hatten, wie der ehemalige Neurologe seine Wohnung verlassen hatte.
Die Temperaturen kletterten bereits nach oben in der prallen Sonne. Charles hängte sich sein Fernglas um den Hals und nahm neben Dr. Schwenker auf einem Terrassenstuhl Platz. Unten im Hof fuhr ein Möbeltransporter vor. Männer stiegen aus und geschäftiges Treiben begann. Sie sprachen in einer fremden Sprache. Charles wollte gerade sein Fernglas ansetzen, als die Frau neben ihm einen erschrockenen Laut von sich gab.
„Da ist er“, raunte sie. Mit ihrem Finger zeigte sie auf den Eingang des gegenüberliegenden Wohnhauses. Ihr Ex-Mann, mit grauem Haar und leicht gebücktem Gang, kam in einem Hemd heraus. Er trug seinen Einkaufsbeutel bei sich und ging plötzlich mit einem breiten Grinsen auf den Transporter zu. Direkt auf eine gute gekleidete Frau mit blond gewellten Haaren.
„Wer ist das?“, fragte Dr. Schwenker und erhob sich eine handbreit von ihrem Stuhl. „Sie kommt mir... bekannt vor.“
Charles hob seine Achseln an. „Sie scheint gerade neu einzuziehen. Eine alte Bekannte?“ Er sah durch sein Fernglas und versuchte die Möbel in der gegenüberliegenden Wohnung genauer zu erkennen. Doch die Bilder hingen in einem schrägen Winkel zur Balkontür. Er ließ sein Fernglas sinken.
„Von hier aus kommen wir nicht weiter.“ Dr. Schwenker schien ihm kaum zuzuhören. „Ich bin mir sicher, ich kenne diese Frau.“ Sie stand in den Hof, wo die beiden miteinander lachten.
„Er kennt sie auch“, meinte Charles. „Kommen Sie, ich weiß, wer uns mit dieser Frau weiterhelfen kann.“
Frau Anne Meier wohnte seit einigen Jahren in der „Gipfelresidenz“ und hatte sich zur größten Tratsche der Seniorenresidenz entwickelt. Die beiden trafen sich zwei Tage später mit ihr im Speisesaal zum Kaffee.
Vor der ehemaligen Buchhändlerin standen ein Stück Sachertorte und ein großer Kaffee. Die Jalousien vor den Fenstern waren heruntergelassen, zum Schutz vor der prallen Sonne, die den Asphalt draußen aufheizte. Auch im Speisesaal war es warm und so waren sie die einzigen, die sich unten aufhielten.
„Ja, ich weiß wer die neue Frau ist, die oben eingezogen ist. Sie heißt Claire von Brunner.“
„Von Brunner!“, rief Dr. Schwenker aus. „Die Frau von seinem Scheidungsanwalt damals.“
„Ich habe nur gehört, sie war eine reiche Frau hinter einem noch reicheren Mann. Aber das passt natürlich.“
„Was?“, fragte Charles und beobachtete, wie sie das Stück Torte vor ihr erlegte. Er wusste, dass sie Diabetes hatte, aber das schien sie nicht zu interessieren. „Ihr Mann ist letztes Jahr verstorben. Danach hat die Familie sie jetzt hierhin abgeschoben, um in das große Haus einziehen können. Warum fragen Sie? Ermitteln Sie schon wieder, Charles?“
Charles zuckte mit einem Lächeln die Schulter. Dann warf er Dr. Schwenker einen kurzen Blick zu. Wenn jemand wusste, ob ihr Ex- Mann vor der Scheidung einen Einbruch fingiert hatte, dann vielleicht sie. Vielleicht war es sogar eine Empfehlung ihres Ehemannes gewesen. Aber erst einmal sollten sie in die Wohnung von ihrem Ex-Mann gelangen und sichergehen, dass er im Besitz der Gegenstände von damals war.
„Also“, mampfte Anne Meier, „wenn Sie Hilfe brauchen-jederzeit. Die Frau hat einen unverschämt gutaussehenden Enkel.“
„Ist das legal?“, rannte die ehemalige Kinderärztin als Charles den Schlüssel zückte und die Wohnung ihres Ex-Mannes aufschloss. „Sagen wir, ich habe eine der Mitarbeiterinnen zur zeitlich begrenzten Herausgabe des Schlüssels... überredet.“ Mit einem leisen Klicken schwang die Tür auf.
„Was ist wenn Alexander zurückkommt, während wir drin sind?“ Sie zögerte über die Schwelle zu treten.
„Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Ihr werter Ex- Gemahl ist gerade bei der medizinischen Fußpflege im Erdgeschoss und ich habe dafür gesorgt, dass er dort länger bleiben wird.“ Charles zwinkerte ihr aufmunternd zu und sie trat langsam ein. Beinahe andächtig schlich sie hinter ihm durch den langen Flur. Charles zückte seine Kamera.
„Da hätten wir ihr Gemälde.“ Der Hockney hing über dem Sofa. Charles machte ein Foto. „Gott, er hat wirklich einen ganz grauenhaften Einrichtungsgeschmack.“ Sie sah sich um. „Sehen Sie das Porzellan oder die Kommode?“ Judith Schwenker ging ins Schlafzimmer. Nach einigen Sekunden rief sie: „Hier!“
Charles folgte ihr. Neben seinem Bett stand eine schöne Kommode aus dunklem Holz. Charles machte ein Foto. „Dieses Schwein. Er hat mir meine Sachen, meine Erbstücke geklaut!“
Charles seufzte. „Es sieht so aus. Suchen wir weiter. Und verändern sie nichts.“ In den nächsten zehn Minuten fanden sie zwei weitere Bilder, die Uhr und das Porzellan. Alles auf ihrer Liste.
„Ich würde ihm die Sachen am liebsten jetzt sofort klauen und alles raustragen. Was machen wir denn jetzt?“, fragte sie, als Charles sie durch den Flur in Richtung Haustür bugsierte.
„Das überlegen wir uns in Ruhe. Vielleicht unten bei einem Kaffee? Ich lache Sie ein und wir...“ Charles verstummte. Er hatte die Tür aufgemacht und die beiden standen direkt vor der Neuen. Claire von Brunner stand auf der Türmatte und hatte den Arm in Richtung Klingel ausgestreckt. Ihre Augenbrauen zuckten überrascht in Richtung ihres Haaransatzes.
„Also“, Claire von Brunner setzte ihre Teetasse im Speisesaal ab. „Sie haben gesagt, Sie erklären mir hier unten alles.“ Charles und Dr. Schwenker warfen sich einem Blick zu. Draußen ging ein schwüler Sommerregen runter und um sie herum wurden bereits die Tische für das Abendessen vorbereitet. „Wie schon gesagt, ich bin seine Ex-Frau.“
„Und wie ich ihnen oben schon sagte, erklärt das noch lange nicht, was sie in seiner Wohnung zu suchen haben.“
„Wir haben Dinge gesucht, die mir gehören. Und wir haben sie gefunden.“ Sie nahm Charles Kamera zur Hand und zeigte der Frau die Bilder, die sie gemacht hatten. Dabei erklärte sie, was vor ihrer Scheidung passiert war, erwähnte den offensichtlich fingierten Einbruch und wie sie die Möbel vor wenigen Tagen hier wieder gesehen hatte.
„Ich will meine Sachen zurück. Von diesem Schwein.“
Frau von Brunner verzog ihren Mund und legte die Kamera ab. Sie trank einen Schluck Tee. Charles betrachte ihre schuldbewusste Miene.
„Sie scheinen gut mit Herrn Dr. Schwenker bekannt zu sein. Wussten Sie davon? War es vielleicht sogar die Idee ihres Mannes? Scheidungsanwälte sind ja…“
„Ich verbitte mir diese Unterstellungen! Mein Mann hat mit dieser Sache garantiert nichts zu tun gehabt!“ Sie setzte ihre Tasse ab und fuhr mit ihrem Finger über den Rand der Tasse. „Allerdings... ist mir zu Ohren gekommen, dass sich gewisse Dinge in seinem Besitz befinden.“ „Meine Dinge?“ Claire von Brunner nickte. „Er hat es meinem Mann in einem vertraulichen Gespräch anvertraut und er hat es mir erzählt.“
„Dann sollten wir sofort die Polizei rufen!“, sagte Judith Schwenker.
„Ich denke... Das können wir viel schneller ohne die Polizei lösen. Möchten Sie nicht das Gesicht ihres Ex-Mannes sehen, wenn Sie ihm sagen, dass Sie Bescheid wissen?“ Die Frau sah Charles an und nickte entschlossen.
„Judith.“ Alexander sah weder überrascht aus, noch klang er so, als er die Tür öffnete und seine Ex- Frau auf seiner Türmatte stehen sah. Die Tür zog er hinter sich ran, als wollte er nicht, dass sie einen Blick in seine Wohnung werfen konnte.
„Ich habe unten am Briefkasten schon festgestellt, dass du auch hier wohnst. Ich hatte gehofft, wir gehen uns einfach aus dem Weg.“ Seine Stimme klang kühl und distanziert. „Das werden wir in gut zehn Minuten auch. Aber wenn du nicht willst, dass ich dich anzeige und dir die Polizei auf den Hals hetze, solltest du mir jetzt genau zuhören.“
„Was redest du denn da?“ Seine Lippen kräuselten sich belustigt. „Nennst du das Zuhören?“ Er schnaubte und verschränkte seine Arme vor der Brust. „Dann mach schnell. Ich habe jemanden am Telefon.“
Sie zeigte ihm die ausgedruckten Bilder, die sie mit Charles gemacht hatte und sagte: „Ich möchte meine Sachen zurückhaben. Meine Sachen die in deiner Wohnung sind. Und zwar alle.“ Alexanders Miene verfinsterte sich, während er mit gesenktem Kopf die Bilder durchging. Seine Lippen wurden schmal. „Du warst in meiner Wohnung? Das ist Einbruch!“, sagte er schließlich.
„Damit kennst du dich aus, nicht wahr? Deine Freundin Claire hat mit mir gesprochen. Du hast es ihrem Mann gegenüber zugegeben.“ Er öffnete seinen Mund, wollte ihr wirklich widersprechen, doch sie gab ihm keine Zeit. „Die Polizei wird meine Anzeige von damals noch vorliegen haben. Ich habe all diese Gegenstände angegeben, die du in deiner Wohnung hast. Es ist vorbei.“
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er seinen Kopf hob und sie ansah. „Was willst du?“
„Dass du den Möbelpackern die Tür öffnest. Ich habe sie für nächste Woche bestellt. Oh und dafür, dass ich dich nicht anzeige, schuldest du mir etwas.“ Sie wartete nicht auf seine Zustimmung. Sie drehte sich um und ging. Mit einem Lächeln auf den Lippen.
Eine Woche später saßen sie bei Charles auf dem Balkon bei Kaffee und Kuchen, unter einem Schirm vor der prallen Sonne geschützt. Judith erzählte ihnen freudig davon, dass sie ihre Sachen wieder hatte. Sie fragten Claire, ob sie sich schon eingelebt hatte.
„Hier scheint mehr los zu mir, als ich dachte“, erwiderte sie. „Oh, da fällt mir etwas ein“, warf Anne Meier ein und legte ihre Kuchengabel ab. „Wer ist denn der hübsche junge Mann, der Ihnen beim Einzug geholfen hat?“
„Das ist mein Enkel.“
„Das nächste Mal, wenn Sie Hilfe brauchen, rufen Sie mich ruhig dazu.“
Charles und Judith begannen zu laden. Claire sah verwirrt aus.
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