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Kriminelle Entscheidungen III - Veränderung oder Status Quo?

Bevor sie den Schlüssel ins Schloss der Haustür steckte, hielt Anna einen Moment inne.

Bennis Attacke auf sie war beinahe zwei Wochen her. Es hatte sich einiges verändert. Der Winter war hereingebrochen mit eisiger Kälte, biss ihr in die Finger und die Ohren. Doch der Schmerz pulsierte noch immer hin und wieder in ihrer Körpermitte, die Benni mit seiner Faust getroffen hatte. Und noch immer begleitete ihr Kollege Dennis sie abends nach Feierabend zu ihrem Wagen, um sicherzu­gehen, das Benni nicht noch einmal auftauchte.

Das Schlimmste war allerdings, dass sie hinter dieser Tür dasselbe erwarten würde, wie jeden Abend in den letzten Wochen, seit diesem grauenvollen Geburtstag von Ninas Mutter. Seitdem sie alles ins Chaos gestürzt hatte. Anna blickte hinüber zu Steffens Haus. In den erleuchteten Wohnzimmerfenstern sah sie das Steffen und seine Frau Gäste halten. Sie glaubte Musik über die Auffahrt unten zu hören. Wahrscheinlich spielte Mark oben in seinem Zimmer an seiner Playstation oder war bei seinen Freunden. Für ihn lief alles weiter wie bisher. Seine Familie hatte sie, Anna, zum Buhmann erklärt. Hätte Mark nicht vor wenigen Wochen den Verein ge­wechselt, hätte Steffen Anna sicherlich längst von ihrem Trainerjob entbunden. Aber nun, wo Mark zu einem besseren Verein gewechselt war, sollte sie mit dem Rest der Mannschaft um Kai machen, was sie wollte.

Ihr sollte es recht sein.

Sie würden immer glauben, dass Julia ihr all das eingeredet hatte, weil es für sie bequemer war. Anna schüttelte sich, stoppte ihre Gedanken, ehe sie weiter in diese Richtung galoppieren konnten und schloss endlich die Haustür auf. Die Wohnungstür von Ninas Eltern im Erdgeschoss war geschlossen. Eine beinahe gespannte Stille lag im Flur. Überhaupt hatten Ninas Eltern sie mehr mit geringschätzigen Blicken bedacht, als dass sie Worte mit ihr gewechselt hatten in den letzten Tagen. Aber sie hatte gehört, dass sie auf Nina eingeredet hatten. Sie hatten wissen wollen, wie die Dinge zwischen Nina und ihr standen, was sie zu ihrer Verteidigung gesagt hatte.

Anna nahm Stufe um Stufe und öffnete ihre Wohnungstür im ersten Stock. Der Geruch nach gebratenem Fleisch und der Lärm des Fernsehers, schlugen Anna entgegen. Sie zog ihre Jacke aus und ließ sich auf die Couch fallen. Nina stand mit dem Rücken zu ihr am Herd und drehte sich nicht um, als Anna müde hervorbrachte: „Hallo.“

„Hallo. Wie war dein Tag?“ Dieselbe Frage wie jeden Tag, in derselben teilnahmslosen Tonlage. „Anstrengend.“ Vorsichtig massierte Anna ihr Auge. Sie würde nicht mehr versuchen mit Nina über den Kuss und Julia zu reden. Sie hatte verstanden, dass Nina kein Wort darüber verlieren und lieber so tun wollte, als wäre nichts geschehen. Anna wusste nicht, was sie davon halten sollte, doch für heute wollte sie vor allem nicht mehr darüber nachdenken.

„Hast du Schmerzen?“

„Ein bisschen.“

„Wir hätten zum Arzt fahren sollen an dem Abend. Vielleicht war doch etwas gebrochen.“

„Das hast du oft genug gesagt.“ Es war das Einige was sie an diesem Abend gesagt hatte. Als Nina den Tisch gedeckt hatte, erhob sie sich und setzte sich ihr gegenüber. Auch heute Abend wich Nina ihren Blicken aus. Sie würden schweigend essen und heute hatte Anna nichts dagegen.

„Steffen hat heute mit mir geredet.“

Annas Blick schnellte nach oben. Nina führte ihre Gabel zum Mund, blickte auf ihren Teller. „Er hat mich gefragt, ob du im Dezember auch auf diese Trainerfortbildung möchtest.“ In Annas Gedanken erhob sich dunkel die Erinnerung an eine Mail vom Verein, die eine dreitägige Trainerfortbildung in einem Hotel in den Bergen angekündigt hatte. Vor einigen Wochen hatte sie keinen Gedanken an so etwas verschwenden wollen. Sie hätte sofort Nein gesagt, wäre eine direkte Antwort gefordert worden. Nun jedoch klang es verlockend, ein Wochenende fern von allem und von Ninas Familie zu verbringen.

„Ich denke schon. Ich muss das Team ja neu aufbauen. Da sind ein paar neue Dinge nicht schlecht.“ „Okay. Steffen hat gesagt, Trainer aus allen Abteilungen des Vereins werden da sein. Auch Volleyballtrainer und so weiter.“ Sie sagte es beiläufig. Annas Kaubewegungen verlangsamten sich. „Davon wusste ich nichts.“

Nina nickte nur.

„Ich...“

„Hättest du was dagegen, wenn ich auch mitkomme?“ Nina starrte sie an. In ihren Augen funkelte etwas, das nach einer Mischung aus Wut und Enttäuschung ansah.

„Natürlich nicht.“

„Okay. Steffen hat gesagt, die bieten auch Anfängerkurse an. Er und Mark werden auch einen belegen.“

Ihr Bruder, der Anna nun verachtete und ihr Neffe, der ungestraft mit einer Vergewaltigung davongekommen war. „Hör mal, findest du nicht, wir sollten endlich mal über diese Sache reden? Der Ku-...“

„Ich muss runter an die Wäsche.“ Ehe sie noch ein Wort sagen konnte, ließ Nina ihre Gabel in ihren noch halbvollen Teller fallen und erhob sich. Als die Wohnungstür hinter ihr zufiel, lehnte Anna sich erschöpft in ihrem Stuhl zurück. Ihr war der Appetit vergangen. Sie wollte ins Bett, die Augen schließen und schlafen, bis sie wusste, was sie wollte und was sie tun sollte.

 

Der Schnee rieselte in der Dunkelheit leise auf sie nieder, während sie reglos dastand, als hätte sie vergessen, in welche Richtung sie ihre Füße tragen wollten. Mit zwei Bieren in der Hand trat Julia aus der Halle und fing Annas Blick auf.

„Du siehst aus, als könntest du eins gebrauchen.“ Für einen Moment befürchtete sie, Anna würde ihr wieder ausweichen. In den letzten Wochen hatte sie auf Julias Nachfragen bloß geantwortet, dass sie nicht beim Arzt gewesen war und Benni auch nicht angezeigt hatte. Weitere Nachfragen hatte sie ignoriert. Aber es musste etwas bedeuten, dass sie nach ihrem Training vor der Halle stehen geblieben war. Sie wusste schließlich, dass Julia nur diesen Hallenausgang benutzen konnte.

„Danke“, murmelte Anna und nahm ihr eine Flasche ab. Sie stießen an, ehe sie schweigend einige Schlucke tranken. Das Rieseln des Schnees füllte Julias Ohren. „Ich habe gehört, Nina und du, ihr nehmt auch an dem Wochenende teil.“ „Nina möchte mit aber sie möchte nicht mit mir über... gewisse Dinge reden.“

„Und du möchtest mit ihr darüber reden?“ Anna ließ sich einen Schluck Zeit.  „Ich denke, wir müssen reden. Damit ich... damit ich einfach etwas mehr weiß.“

„Soll das heißen, du hast dann auch irgendwann vor, mit mir zu reden?“ Sie sah sie an. Annas Kopfbewegung sah aus wie ein Nicken, doch sie schwieg.

„Du weißt ja, wo du mich findest.“ Julia wandte sich ab und entfernte sich einige Schritte mit ihrem Bier. Doch dann fiel ihr noch etwas ein. „Oh sag mal... Stimmt es, dass Steffen und Mark auch teilnehmen?“ Anna nickte. Julia atmete tief durch. „Das könnte zu einem Problem werden. Lilly hat nämlich auch beschlossen, auf der Fortbildung ihre Trainerlizenz zu machen.“

 

Nach dem ersten Tag des Trainerlehrgang, an den die Grundlagen der Trainingslehre, sowie Verletzungen und ein Erste-Hilfe-Kurs an der Tagesordnung gestanden hatten, herrschte im Speisesaal der Berglodge ausgelassene und gelöste Stimmung. Nur an Annas Tisch nicht. Der Saal war mit robustem Holz eingerichtet. Runde Tische waren mit weißen Tischdecken verdeckt, Kellner balancierten Tabletts voller Getränke durch die Menge. Vor den Fenstern fiel der Schnee.

Anna rutschte auf ihrem Stuhl herum und vermied es, ihren Blick zu heben. Sie spürte auch so Ninas Augen quer über dem Tisch auf sie zielen. Sie wusste, was ihr nicht passte. Anna und Julia waren beim Erste-Hilfe-Kurs für eine Übung eingeteilt worden.

„Ist das Mädchen hier um Ärger zu machen?“ Steffen saß links von ihr und seine Augen zielten mindestens genauso wütend auf Anna, wie Ninas.

„Ich kenne das Mädchen nicht“, war alles, was Anna erwiderte. Sie würde nicht seinem Blick auf diese Lilly zwei Tische entfernt folgen. Einerseits, weil sie ihr nach allem, was geschehen war, nicht den Eindruck vermitteln wollte sie anzustarren. Andererseits, weil Julia direkt neben dem Mädchen saß.

„Und was ist mit ihrer Trainerin? Hat sie dir etwas gesagt?“

„Nein. Wir...“

„Können wir das Thema vielleicht wechseln?“

„Das macht es auch nicht besser, Schwesterherz. Hör auf die Augen zu verschließen! Mark hat uns doch erzählt, was...“

„Mir ist der Appetit vergangen.“ Nina warf ihre Serviette auf den Teller und stand auf. Im Augenwinkel sah Anna Mark in seine Cola grinsen, als sie sich den Mund abwischte und ebenfalls aufstand, um Nina aus dem Saal zu folgen.

 

Über Nacht war Schnee gefallen, der früh am nächsten Morgen eine eisige, knirschende und weiße Schicht um die große Berglodge herum gebildet hatte. Es war malerisch gelegen, umgeben von verschneiten Wiesen und Bergen, oberhalb einer kleinen Stadt, die noch im Dunkeln lag. Nur einige Straßenlampen beleuchteten die Stadt unten, doch das würde sich bald ändern. Am Himmel zeichnete sich bereits in zarten Farben der beginnende Sonnenaufgang ab. Für dieses prächtige Schauspiel hatte Anna auf ihrem Sparziergang allerdings kaum etwas übrig. Es war weniger ein Spaziergang und mehr eine Flucht, die sie am Waldrand entlanggeführt hatte. Als sie nun wieder das Hotel erreichte, blickte sie hinab auf das Städtchen und ließ Atemwolken in den frühen Morgen steigen.

Sie hatte versucht sich bei Nina zu entschuldigen am gestrigen Abend. Sie hatte mal wieder versucht mit ihr zu reden. Aber Nina hatte nicht reden wollen und war unter die Dusche gesprungen. Auch ihren Vorschlag, das Wochenende und die Fortbildung abzubrechen und nach Hause zu fahren, hatte Nina nicht einmal hören wollen. Und dabei hatte Anna gehofft sie würde die Gelegenheit ergreifen und es ihr ersparen noch länger in Steffens und Marks Nähe zu bleiben. Ganz zu schweigen von Julias Anwesenheit die Anna wie einen Wachsfilm auf ihrer Haut spürte. Aber Ninas Stolz oder was es auch immer war, war offensichtlich stärker als alles andere.

„Was machst du denn schon so früh hier?“ Julias Stimme tauchte aus dem Nichts auf. Anna schrak zusammen.

„Nachdenken.“ Julia sah sie an, sagte jedoch nichts. Das übernahm der intensive Blick in ihren Augen. „Und du?“

„Ehrlich gesagt, suche ich meine Spielerin. Lilly.“

„Was?“

„Als ich aufgewacht bin, lag sie nicht in ihrem Bett bei uns im Zimmer. Ihre Schuhe sind auch weg. Ich nehme an, das Wiedersehen mit Mark hat sie getroffen und sie geht irgendwo hier draußen spazieren.“

„Ich bin schon eine Weile unterwegs und ich habe sie nicht gesehen.“ Sie sahen sich an. „Warst du schon auf der Rückseite der Lodge?“ Anna schüttelte den Kopf.

Als hätten sie eine stillschweigende Abmachung getroffen, setzten sie sich in Bewegung. Sie sagten kein Wort und so hörten sie sofort, was in der kalten Luft hinter der Lage gerufen wurde.

„Pack das weg! Bist du verrückt?“

„Das ist Mark!“, zischte Anna. Was sie nicht sagte, war, dass er ängstlich klang. Aber das war auch nicht nötig. „Na, wie fühlt sich das an, so in die Enge gedrängt zu werden? Scheiße, oder?“

„Und das ist Lilly“, raunte Julia. Sie sahen sich an und eilten dann in den Hinterhof. Als sie um die Ecke bogen sehen sie Mark mit dem Rücken an der Hauswand, ein langes Messer an seine Kehle gedrückt. Ein Messer das Lilly in ihren Händen hielt.

„Lilly!“, stieß Julia hervor.

,,Was...“

„Bleibt wo ihr seid oder ich stech ihn ab!“, brüllte sie in die Kälte.

„Die ist vollkommen übergeschnappt!“

„Halts Maul, du Arsch! Du hast mir das angetan!“ Ehe Julia und Anna ein weiteres Wort sagen konnten, traten einige Gestalten in der Morgendäm­merung auf der anderen Seite um die Ecke. Eine Frau und ein Mann. Sie schraken, als sie sahen was vor sich ging. Julia erkannte erst, wer sie waren, als der Mann entsetzt brüllte: „Mark! Was soll das? Geh von meinem Sohn weg!“

Steffen und Nina.

„Lilly, das bringt doch nichts. Er ist es nicht wert.“

„Lass ihn in Ruhe du dummes Mädchen!“

„Ich will einfach nur, dass er zugibt, was er mir angetan hat. Hier vor euch!“

Mark schnaubte. „Gar nichts“, brachte er hervor, doch seine Stimme wackelte.

„Mein Sohn hat nichts getan! Du...“

„Und ob er es getan hat! Alle hier wissen es! Also sag es ihnen, du Kröte!“ Eine Träne begann über Lillys eisige Wangen zu rollen. Mark schwieg. „Mach den Mund auf oder ich stech dich ab.“ Sie schien den Druck auf die Klinge zu erhöhen.

„Scheiße ist ja gut. Ich hab' s getan. Es tut mir leid, okay? Scheiße. Es tut mir leid.“ Auch Mark begann zu weinen.

„Was?“ Steffen starrte seinen Sohn an. Julia sah das Zittern in Lillys Arm, sah die Kraft daraus schwinden. Sie trat vor und riss dem Mädchen das Messer aus der Hand, dann schloss sie Lilly in ihre Arme und fing das Schluchzen von ihr ab. Mark stürmte in die Arme seines Vaters.

„Die ist verrückt, sie hat mich gezwungen.“

„Ich weiß. Das wird ein Nachspiel haben!“, schimpft Steffen, ehe er Mark in Richtung des Eingangs der Lodge bugsierte, weg von Julia und weg von Anna und Nina.

„Ihr habt es gehört. Ihr glaubt mir doch endlich, oder?“

„Wir haben dir immer geglaubt“, beschwichtigte Julia. „Komm wir bringen dich nach Hause.“ Mit Lilly im Arm ging sie davon. Übrig blieben Anna und Nina. Sie sahen sich an, einige Meter Schnee zwischen ihnen.

„Ich war spazieren und bin ihr zufällig begegnet.“

„Okay.“ Nina nickte, doch sie sah sie nicht an. „Ich denke, wir sollten auch nach Hause fahren. Fährst du mit?“ Sie sah auf.

Und Anna spürte, dass sie eine Entscheidung von ihr erwartete. Sie nickte. Sie traf eine Entscheidung. Aber sie war sich nicht sicher, wie endgültig diese Entscheidung war, als sie an Annas Seite zum Eingang der Lodge schritt.

 

Oder ob sie die endgültige Entscheidung mal wieder vertagt hatte.

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