Hast du dich schon mal gefragt, welche Menschen mitten in der Nacht mit dem Auto unterwegs sind?
Ich rede nicht von der Großstadt, die niemals ganz schläft, sondern von Kleinstädten, wo es auch an langen Sommerabenden um 23 Uhr auf den Straßen menschenleer wird. Und wo man um 2 Uhr morgens selbst in den Parks kaum noch Jugendliche antrifft. Wer fährt mitten in der Nacht durch diese einsame Dunkelheit? Und warum?
Ich stellte mir diese Frage das erste Mal mit 27 Jahren, im Auto meines Kumpels Ben, als wir um 2.30 Uhr an einem Samstagmorgen durch die verlassenen Straßen einer Kleinstand schlichen. Im Radio liefen leise Technobässe, doch Erics Atem auf der Rückbank übertönte sie. Keiner von uns sagte ein Wort. Und so hatte ich beim Abbiegen des Kleinwagens vor uns Zeit, mich zu fragen, wer noch zu so einer gottverlassenen Zeit hier draußen rumfahren könnte.
Da wäre natürlich das Offensichtlichste. Diejenigen, die von einem langen Abend mit Freunden auf dem Weg nach Hause sind, diejenigen, die arbeiten mussten und diejenigen, die gerade arbeiten. Polizisten, Taxifahrer, Rettungskräfte. Aber hinter all diesen Menschen stecken Geschichten. Ich fragte mich, ob der Fahrer des Kleinwagens nicht schlafen konnte oder vielleicht ein Kleinkind auf der Rückbank durch die Nach fuhr, in der Hoffnung es möge endlich einschlafen. Oder ob er auf dem Rückweg von einer Frau war, in Gedanken noch ganz verzückt von ihrer gemeinsamen Nacht. Vielleicht war er auch gerade dabei ein Verbrechen zu begehen.
„Ist das da vorne...“
„Scheiße.“
Die kurze Unterhaltung der beiden, riss mich aus meinen Gedanken. Ich verstand erst nicht, wovon sie sprachen, doch dann sah ich das Flackern des Blaulichts, das die Nacht zerriss. Mehrere Polizeiwagen ein Stück die Straße hinauf.
„Was ist das denn?“
„Beruhig dich, das ist nur eine Kontrolle“, murmelte Ben. Er sprach ruhig, doch ich sah die Anspannung in seinem Gesicht.
„Was heißt... Wir können da nicht reinfahren!“
„Eric hat recht, Mann. Dreh um!“ Mir schlug das Herz bis zum Hals.
„Die haben uns längst gesehen. Wenn wir jetzt umdrehen, haben wir die sofort am Arsch. Bleibt einfach ruhig und lasst mich reden.“
Ich brachte keinen Ton hervor. Das Licht wurde greller, eine Kelle senkte sich. Wir wurden raus gewunken. Mir wurde speiübel als Ben am Straßenrand hielt und das Fenster herunterließ. Eine Taschenlampe leuchtete in Wageninnere und ich hob reflexartig die Hand, um meine Augen vor dem blendenden Licht zu schützen.
„Guten Abend, die Herren! Oder sollte ich lieber Guten Morgen sagen? Wo kommen wir denn her?“ Ich hörte Eric hinter mir nach Luft schnappen. All das hatten wir noch nicht besprochen. Welche Lüge wir auch immer angeben würden, sie musste überzeugend sein und wir dürften sie später auf keinen Fall mehr ändern. Ich brachte keinen Ton hervor. „Wir waren bei einem Freund und das ging etwas länger“, sagte Ben ruhig.
„Aha. Haben wir dabei auch etwas getrunken? Bier vielleicht?“
„Nur die anderen. Ich nicht.“ Der Polizist brummte. Dann leuchtete er mit der Taschenlampe erst über mein Gesicht, dann über Erics. Ich befürchtete, er würde meine wild pulsierende Halsschlagader sehen.
„Hauchen Sie mich mal an.“ Ben beugte sich zu dem Fenster und öffnete den Mund. Ich betete, dass dem Polizisten nicht der Geruch nach Reinigungsmitteln auffallen würde, den wir alle drei in unseren Kleidern trugen. Und ich bettete, dass wir nicht so nervös wirkten, dass er auf die Idee kam, das Auto zu durchsuchen. Der Polizist brummte zufrieden.
„Dann eine gute Weiterfahrt.“ Die Anspannung wollte nicht von mir weichen, bis Ben einige Straßen zwischen uns und die Kontrolle gebracht hatte. Dann brachen wir alle in eine Mischung aus hysterischen Jubel und ungläubiges Gelächter aus.
„Ich dachte wir sind am Arsch!“, sagte Eric und wischte sich Tränen aus den Augen.
„Ich auch.“ Ben beruhigte sich als Erster wieder. „Wir sind da“, sagte er, als die Baustelle in Sicht kam. Er stoppte den Wagen und löschte das Licht. Es war ein Grundstück am Stadtrand, auf dem Wohnhäuser entstehen würden. Zu diesem Zeitpunkt befand sich nur ein riesiges Loch in der Erde, von Bauzäunen umgeben. Bens Vater war damals der Bauleiter. Ben wusste genau, wann das Fundament gegossen werden sollte. Ich stierte in die Nacht hinaus, auf der Suche nach Nachtschwärmern oder Hundebesitzern, doch die Gegend war verlassen. Ben und Eric schnappten sich das in Müllsäcke gestopfte Bündel und schleppten es ächzend zum Zaun. Ich nahm die Sporttasche und die Schaufeln aus dem Kofferraum.
Es dauerte Stunden, alles zu vergraben und die Erde wieder so herzurichten, wie wir sie vorgefunden hatten. Als wir wieder ins Auto stiegen, waren wir schweigsam und erschöpft und die Sonne ging gerade auf. Wir begegnen den ersten Frühaufstehern, sogar Joggern und einer Gruppe Jugendlicher, die die Nacht offensichtlich durchgemacht hatte. Wir sagten nichts und dennoch wusste ich, dass uns allen danach gewesen wäre, an einer Tankstelle zu halten und die Erinnerungen in Alkohol zu ertränken. Aber wir taten es nicht.
Ben setzte jeden von uns zuhause ab und wir schlichen uns ohne Zeugen in unsere Wohnungen und duschten. Ich weiß nicht, ob die anderen schliefen, ich tat es nicht. Es dauerte einige Tage, bis ihr Verschwinden auffiel. Sie wurde in Argentinien zurückerwartet und tauchte nie auf, ihre Familie hatte nichts mehr von ihr gehört, es wurde klar, dass sie ihren Flieger nie bestiegen hatte. Jonas wurde befragt, ihr Handy war zuletzt in seiner Wohnung verortet worden. Doch er sagte aus, sie habe die Wohnung lebend und im Streit verlassen, wir bestätigten dies. Die Polizei glaubte uns nicht. Sie befragten uns wieder und wieder, doch sie fanden keinerlei Beweise. Auch nicht in Bens Auto. Sie fanden auch nie die Leiche.
Bis heute zumindest nicht. Wir haben all die Jahre zusammengehalten. Jonas hat seine Schuld bei jedem von uns beglichen. Eric hat er das Studium finanziert, Bens Scheidungsanwalt und mein Haus. Wir dachten, wir hätten es überstanden. Jonas ist mittlerweile Oberarzt, Ehemann und Familienvater mit Haus am See. Ben lebt in Amerika als Bänker auf großem Fuß. Eric ist in die Politik gegangen. Und ich lebe mit meiner Frau und meinen Kindern auf dem Land. Bescheiden und zurückgezogen. Die Angst doch noch entdeckt zu werden, ist nie verschwunden, nie ganz. Obwohl wir alle weggezogen sind.
Und dann habe ich es gestern in den Nachrichten gehört. Bei Bauarbeiten im Keller des Hauses wurden Knochenreste gefunden. Es sind ihre Knochen, ich weiß es. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie über Bens Vater auf uns kommen. Ihre Eltern haben nie aufgehört uns zu beschuldigen, ihre Schwester hasst uns noch immer. Und unser Band ist schwächer geworden. Wir alle haben etwas zu verlieren. Wir sind nicht mehr, wie wir damals waren. Und ich bin das schwächste Glied in der Kette. Sie haben sich immer über mich lustig gemacht. Nur dieses Mal, bin ich gewiefter. Ich habe bei meinem Anwalt eine Aussage gemacht und versichere gegen Straffreiheit alles über damals aufzuklären. Bis dahin muss ich verschwinden. Ich habe meiner Frau gesagt, ich verreise geschäftlich. Ich weiß noch nicht, wohin ich fliegen werde, doch es ist mitten in der Nacht und zum ersten Mal seit 20 Jahren fahre ich wieder durch verlassene, dunkle Straßen. Es gibt also weitere Gründe, um diese Uhrzeit unterwegs zu sein.
Flucht.
Flucht vor den Behörden und der Vergangenheit.
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