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In Vino Veritas

Wer noch keine Magie erlebt hat, könnte es für Magie halten.

Es ist der wärmste Spätsommer, von dem die Stadt je verwöhnt wurde. An diesem sonnigen Freitagabend sind viele Menschen auf der Straße unterwegs, sind viele Menschen auf dem Weg in den Park. Das Gras ist trocken, die Blätter leuchten gelb und rot, als würden sie sich gegenseitig in ihrer Schönheit überbieten wollen. Ich trage eine Sonnenbrille und habe einen Pulli und eine Weinflasche in den Händen, für später, wenn es kälter wird. Ich bin hier in diesem Park wie so viele. Wir sind hier, wie so viele. Ein Pärchen, das die Sonne und die frische Luft genießt. Ein Pärchen, das ein ganz normales Picknickdate im Park hat.

Und alles daran stört mich.

Du hast eine Picknickdecke dabei und Sandwiches mitgebracht. Wir gießen den Wein in Pappbecher, die Sandwiches schmecken. Vögel zwitschern, die Sonne wärmt die Luft, in der schon ein herbstlicher Hauch spürbar ist. Du fragst mich nach der Arbeit diese Woche, nach meinen Kollegen. Und ich weiß, es interessiert dich wirklich. So fing alles an. Mit deiner Aufmerksamkeit, mit deinem Interesse an mir. Stück für Stück bist du in mein Leben vorgedrungen - und doch nie zu dem, was wirklich wichtig ist.

Es ist, als wüsstest du nicht, dass da noch mehr ist. Als wüsstest du nicht, dass darunter noch eine Schicht von mir ist, die entdeckt werden möchte. Als würde es dir nicht darum gehen.

Ich habe versucht, deine Schichten zu erkunden, wie beim Schälen einer Zwiebel. Aber ich stoße nicht auf Substanz. Über deine Arbeit redest du nicht gern, als wäre es nichts Wichtiges, womit du jeden Tag deines Lebens verbringt. Als wüsstest du nicht, wie sehr es mich interessiert, wofür du tagtäglich aufstehst. Was dich antreibt. Und woran du glaubst.

Du willst unbedingt bei meinen Spielen dabei sein, an der Seitenlinie bei jedem Wetter. Du gibst mir das Gefühl, ich wäre großartig, dabei kicke ich nur noch in einer unteren Liga. Du hast alle gelangweilten Freundinnen der anderen bei den Spielen alt aussehen lassen. Du hast alle Jungs neidisch gemacht. Als hättest du ein Buch gelesen und würdest die Anleitungen Schritt für Schritt befolgen. Aber dabei bleibt auf der Strecke, wer du wirklich bist. Und ob du es wirklich verstehst. Du bist immer dabei - und doch nie ein Teil von alldem.

Meine Eltern haben uns neulich als Traumpaar bezeichnet, nach all den Eindrücken, die wir auf Familienfeiern hinterlassen. Und sie hätten nichts Schlimmeres sagen können. Denn ich will so viel mehr als das.

Ich will nicht auf einer Picknickdecke im Park sitzen und mir im beginnenden Sonnenuntergang einen Pulli anziehen. Ich will mich an dir wärmen. Ich will keine Fotos machen, die wir dann als Profilbilder nutzen. Ich will Dinge tun, die wir niemandem zählen können. Ich will Momente mit dir teilen, die so kostbar sind, dass ich keine Sekunde mit dem Schießen eines Fotos verplempern will. Ich will meine Augen nicht von dir abwenden können, ich will so gebannt von dir sein, dass ich das Gefühl habe, wir wären allein im Park. Ich will dir sagen können, was ich bisher immer für mich behalten musste, in dem Wissen, dass es bei dir sicher aufgehoben ist. Ich will Seiten an dir kennen­lernen, von deren Existenz du bisher nichts wusstest. Ich will, dass wir uns in unserer Verletzlichkeit gegenüberstehen, dass wir uns mit all unseren Fehlern sehen und dennoch nicht genug voneinander bekommen können. Ich will, dass du meinen Horizont so weit verschiebst, dass ich sehen kann, wo er das Meer küsst.

Und du willst unseren Urlaub planen. Eine Rundreise. Nur wir zwei und meine beiden linken Füße, wie du scherzt. Du schwärmst davon, dass wir in den Ferienwohnungen zum Kaminprasseln unsere Lieblingsfilme und -serien schauen können. Filme und Serien, die dir einfach gefallen, weil sie romantisch und lustig sind. Und auch das Kamin­feuer klingt aus deinem Mund wieder nach einer Buchanleitung und nicht danach, als wüsstest du, wie viel einfacher es ist, sich im Feuerschein zu öffnen und in die Tiefe des Lebens einzutauchen.

 

Du würdest mich auslachen, wenn ich all das jemals laut sagen würde. Und genau deshalb, werde ich es nie tun. Du wirst mich nie richtig kennenlernen. Wie gesagt, wer noch nie Magie erlebt hat, könnte uns für Magie halten. 

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