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Der Herr

Ich wusste von Anfang an, das mit ihm etwas nicht stimmt. Vielleicht war es die Art, wie meine neue Kollegin das erste Mal von ihm er­zählte. Sie war erst vier Wochen bei uns im Büro, als wir uns in der Mittagspause an den Fluss setzten, für ein wenig Abkühlung in der städtischen Mittagshitze. Sie fragte mich, was ich am Wochenende vorhabe. Ich erinnere mich nicht mehr an meine Antwort, aber ich nehme an, dass ich keine abenteuerlichen Pläne hatte. Allerdings erinnere ich mich noch genau an ihren Blick und ihre Antwort, als ich sie nach ihren Plänen fragte.

„Oh, am Freitag vielleicht mal wieder Kino. Mal sehen, wozu der Herr Lust hat.“ Dann faselte sie davon, samstags mit einer Freundin auf ein Fest zu gehen. Doch es waren die Worte Der Herr die meine Aufmerksamkeit erregt hatten. Zu Anfang dachte ich, es wäre nur eine merkwürdige Art von ihrem Freund zu sprechen, aber gleichzeitig hatte ich bereits dieses Gefühl. Es ist eine Art Gespür für eine Beziehung, in der irgendetwas nicht stimmt, das man vielleicht nur entwickelt, wenn man selbst schon einmal so eine Beziehung ge­führt hat. Und in den folgenden Wochen, sollte sich dieses Gefühl noch verstärken.

Es war in einem Online-Meeting, gut sechs Wochen nach ihrem Einstieg bei uns. Vielleicht hätte ich sie warnen sollen, dass sie mit ihrem Vorhaben bei unserem Abteilungsleiter auf Granit beißen würde. Er ist ein Sexist, der absolute Perfektion erwartet. Aber zu diesem Zeitpunkt ging sie mir bereits auf die Nerven. In ihrem Geltungsbedürfnis hat sie sich ständig überall in den Vordergrund gespielt. Ich saß also da und sah zu, wie ihre Vorschläge für die Herbstkampagne auseinander ge­nommen wurden. Nicht, dass ihre Ideen nicht gut gewesen wären. Nur sie waren nicht zu Ende gedacht. Ich gebe zu, ich genoss es ein wenig. Im Anschluss an das Meeting regte sie sich wahnsinnig auf.

Als ich am nächsten Tag am späten Vormittag nach einem Kundentermin ins Büro kam, telefonierte sie gerade mit ihrem Freund, dessen Namen sie noch nicht erwähnt hatte. Sie erzählte ihn von dem Meeting und ließ sich Ratschläge von ihm geben. Doch in ihrem Ge­spräch lag eine Distanziertheit, die mich zuerst denken ließ, sie würde mit einem Vorgesetzten sprechen. Vor allem aber fragte ich mich, wieso sie erst vierundzwanzig Stunden nach dem Meeting, das sie so aufgeregt hatte mit ihrem Freund darüber sprach.

„Das verstehe ich nicht ... Aber du hattest zugesagt.“ Plötzlich klang sie verärgert und senkte ihre Stimme. „Was soll das heißen?“ Sie erhob sich und verließ das Büro. Als sie wiederkam, wirkte sie verkniffen.

„Ist alles in Ordnung?“ In knappen Worten erklärte sie mir, dass ihr Freund nicht zum Sommerfest der Firma kommen könnte. Als Anwalt stecke er gerade in einem schwierigen Prozess. Ich versuchte sie zu beschwichtigen und erfuhr, dass die beiden seit Jahren keinen gemeinsamen Urlaub gemacht hatten. Gerade als ich nach dem Grund fragen wollte, klingelte das Telefon. Ich hatte keine Gelegenheit mehr, darauf zurückzukommen. Aber aus irgendwelchen Gründen konnte ich das Thema auch nicht vergessen. Es rückte nur ein wenig in den Hintergrund, jedes Mal, wenn sie in einem Meeting wieder den Mund öffnete und mich zur Weißglut brachte. Allein ihre Stimme folterte meine Gehörgänge. Und dann, drei Tage vor dem Sommerfest, fand ich im Bürodrucker die Buchungsbestätigung für ein Hotel - auf ihren Namen. Für die Nacht nach dem Sommerfest. Im besten Hotel der Stadt. Und ein weiterer Name war angegeben. Johannes Portmann.

Ich steckte die Bestätigung ein und zeigte sie drei Tage später meinem Kollegen auf dem Sommerfest. Die Cocktails waren gratis und wir waren angetrunken. Ansonsten wäre vielleicht alles anders gekommen. Wir waren neugierig, wer der Mann war, mit dem sie sich offensichtlich für eine Nacht ein Hotel genommen hatte. Wir vermuteten sogar, sie könnte eine Affäre haben. Doch sie erzählte uns, dass sie nach dem Fest mit ihrem Freund verabredet sei und deshalb nicht noch mit uns etwas trinken gehen könnte. Also verabschiedeten wir uns früher als geplant vom Fest und nahmen uns ein Taxi zum Hotel. Wir waren zu zweit. Mein Kollege, den wir alle nur die Bürobitch nannten, und ich, legten uns in der Hotelbar auf die Lauer. Und wir jauchzten betrunken vor uns hin, als sie schließlich auftauchte - Hand in Hand mit einem deutlich älteren Mann. Er hatte einen grauen Schopf, trug einen teuren Anzug und buschige Augenbrauen. Er hätte ihr Vater sein können. Er war mindestens zwanzig Jahre älter als sie. Wir beobachteten wir sie eincheckten und den Aufzug nach oben nahmen. Wir blieben in der Hotelbar und gaben unsere Ideen über die beiden preis. Ich meinte, er hielt es nur mit ihr aus, weil er bereits schwerhörig sei. Die Bürobitch hielt dagegen, dass sie ins Hotel gehen mussten, weil er um diese Uhrzeit im Altersheim Besuchsverbot hatte. Wir tranken und lachten, lachten und tranken. So sehr, dass ich es schaffte, den offensichtlichsten Grund zu verdrängen, weshalb die beiden in ein Hotel gingen. Ich war über meine eigene Vergangenheit hinweg. Man vergisst. Ich hatte vergessen. Und dann kamen wir auf die Idee, an die Zimmertür der beiden zu klopfen. Wir torkelten in den Aufzug. Eine Frau im blauen Kleid, deutlich älter als wir, beäugte uns missbilligend, als wir hinter sie traten.

„Was meinst du, wobei wir sie stören?“

„Pah, bestimmt nur beim Zeitunglesen.“

„Oder er wirft sich noch eine Pille ein.“ Wir gackerten los.

„Das sie... sie und so ein alter Sack...“ Wir bekamen vor Lachen keine Luft, während der Aufzug nach oben ruckelte.

„Was war nochmal die Zimmernummer?“

„383.“

„Entschuldigung, wen wollen Sie in Zimmer 383 besuchen?“ Als hätte ein elektrischer Schlag sie durchzogen, drehte die Frau sich zu uns um.

„Och, nur eine Kollegin von uns, die dort mit ihrem deutlich betagteren Liebhaber abgestiegen ist“, plapperte die Bürobitch los. Doch in diesem Augenblick entdecke ich den Zimmerschlüssel, der aus ihrer Hand­tasche baumelte. Darauf eingraviert war: 383.

Ich war schlagartig nüchtern. Noch heute sehe ich den Blick der Frau, ihre versteinerte Miene. Und auf einmal wusste ich es. Es war wie bei mir damals. Auch wir mussten uns verstecken, weil er eigentlich zu einer anderen gehörte. Irgendwie schaffte ich es, die giggelnde Bürobitch zum Schweigen zu bringen. Die Frau stieg im 3. Stock aus, wir fuhren mit dem Aufzug wieder nach unten. Mit Beginn der nächsten Woche meldete die Neue sich krank.

Als sie nach einigen Tagen wiederkam, merkte ich ihr sofort an, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und war stiller. Ich ver­stand sie. Ich verstand sie auf eine Art und Weise wie das nur jemand kann, der dasselbe erlebt hat. Den Wahnsinn, die Enttäuschungen. Der Herr hatte sich nicht für sie entschieden.

 

Das tun diese Herren nie.

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