· 

Geheimnisse im November

MONTAG 7:23 Uhr

Er war der einzige Radfahrer bei diesem Wetter. Es nieselte, das herabgefallene Herbstlaub war rutschig und die kaum voranschreitende Morgendämmerung gab ihm das Gefühl erst im letzten Augenblick im Scheinwerferkegel der Autos sichtbar zu sein. Doch das Risiko nahm Robert Becker gerne in Kauf. Er wurde lieber von einem unachtsamen Autofahrer aus dem Leben gerissen, während er den kalten Wind auf seinen Wangen und das Brennen in reinen Beinen spürte, als elendig an einer Krankheit zu verrecken, die ihm Tag für Tag mehr Freiheit nahm. Robert schüttelte seinen Kopf, während die beleuchtete Preistafel der Tankstelle in Sicht kam. Es war nicht gut, wenn seine Gedanken bereits Montagmorgens in diese Richtung drifteten und sich wie ein Gürtel eng um seinen Brustkorb schnürten. Er hob seinen Arm, um dem röhrenden Motor hinter ihm zu signalisieren, dass er auf die Tankstelle abbiegen wollte. In dem Moment gab der Wagen hinter ihm Gas, zwang Robert den Lenker herumzureißen und bog vor ihm auf die Tankstelle ab. Es war ein schwarzer SUV, der mit quietschenden Reifen an einer Zapfsäule hielt. Während Robert auf die Tankstelle schlingerte, sah er am Heck des SUV einen verblassten Freizeitparkaufkleber. Eine dunkel­häutige Frau stieg aus, in einen schicken Mantel gehüllt. Obwohl sie direkt an ihm vorbei stiefelte, schien sie ihn nicht zu be­merken. „Sie wissen schon, dass das hier der echte Straßenverkehr ist und nicht irgendein Fahrgeschäft in einem Freizeitpark, oder?“ Mit erschrockenen Augen schielte ihn die Frau an und sah sich dann um, als suche sie die Person, mit der er sprach. Um sie herum war jedoch niemand zu sehen. Nur am Ein­gang der Tankstelle stand eine Gruppe Männer in Arbeitsanzügen, die rauchte und Kaffee trank. „Ich meine Sie! Sie haben mich eben fast umgenietet!“ Die Frau starrte ihn an, ohne ein Wort von sich zu geben. Sie stolperte rückwärts und eilte in die Tankstelle. Robert sah ihr hinterher. Sein Blut hallte noch immer in seinen Ohren, seine Hände am Lenker zitterten. Doch er rief ihr nicht mehr hinterher. Er stieg vom Sattel und stellte sein Rad am Tankstellenhäuschen ab. Noch ehe er eintreten konnte, lief die Frau mit gesenktem Kopf und einem Kaffee zum Mitnehmen in der Hand wieder hinaus. Sie schien beinahe vor ihm zurückzuzucken, als sie ihn im Augenwinkel bemerke. Nachdenklich betrat Robert den Laden, um sich für seine hoffentlich stattfindende Mittagspause ein belegtes Brötchen zu kaufen. Er sagte sich, dass er genug Sorgen hatte, etwas das ihm sein jüngster Besuch im Krankenhaus am Wochenende wieder in Erinnerung gerufen hatte. Dennoch spukte ihm die Frau noch im Kopf herum, als er sein Fahrrad wenige Minuten später die Treppen zur Praxis für Physio­therapie hochtrug. Sein erster Patient wartete bereits vor der Tür. Wie jeden Montag. Ein kräftiger Mann mit Bierbauch, der in seinem Anzug vor der Tür stand und in sein Handy plärrte. Es klang nicht nach einem freundlichen Telefonat. Thomas Krupp würdigte ihn keines Blickes, als er hinter Robert die Praxis betrat. Wie jeden Morgen trat er in das Behandlungszimmer mit der Nummer 3. Als Robert einige Minuten später umgezogen eintrat, lag er mit entblößtem Rücken und handylos auf der Massageliege. „Sie können sich nicht vorstellen, was ich für ein Wochenende hatte. Sie müssen meine Band­scheiben unbedingt wieder hinkriegen. Ich bin ja kaum noch in der Lage mich zu bücken.“ Robert schwieg. Er hatte gelernt, das Gejammer seiner Patienten, die nur ein wenig verspannt waren und die keine Ahnung davon hatten, was es wirklich hieß, die Kontrolle über seinen Körper zu verlieren, zu ignorieren. Und normalerweise hätte er eine freundliche Antwort gegeben. Doch heute schwieg er, als er begann seine Hände in der Rückenmuskulatur des Mannes zu vergraben. „Das tut gut. Wer Sie hat, braucht kein Fitnessstudio.“ Robert atmete tief durch. „Hat Ihnen Ihr Arzt nicht gesagt, dass Ihrem Rücken Bewegung und leichtes Krafttraining guttun würden?“ Der Mann grunzte. „Für sowas habe ich keine Zeit. Und warum sollte ich bei dem Wetter mit dem Rad zur Arbeit fahren? Für Sie mag es in Ordnung sein, verschwitzt auf der Arbeit anzukommen, aber ich kann mir das nicht leisten.“ „Wenn man überhaupt sicher ankommt.“ Unter normalen Umständen hätte Robert kein Bedürfnis danach verspürt, seinem Patienten von seinem Morgen zu erzählen, aber es schien ihm ein Thema zu sein, bei dem er dem Mann nicht den Hals umdrehen wollte. Eines von wenigen Themen. „Wenn die Tussi Sie aufgegabelt hätte, hätte ich mir einen neuen Masseur suchen müssen.“ „Tja. Und sie hätte sich wahrscheinlich nur darüber geärgert, wenn mein Blut auf dem Freizeitparkaufkleber auf ihrem Auto gelandet wäre.“ „Einen Moment.“ Wie ein ungelenkiges Hängebauchschwein drückte Thomas Krupp sich auf, bis er ächzend vor Robert saß. „Von welchem Park war der Sticker?“ Seine Augen waren zusammengekniffen. „So genau habe ich nicht hingesehen.“ „Welche Farbe hatte der SUV?“ „Schwarz.“ „Und die Tussi?“ „Ähm... Die Frau war dunkelhäutig. Wieso? Kennen Sie sie?“ Der Mann fletschte seine Zähne wie ein grinsender Hai. „Ich kannte sie.“ Dann legte er sich wieder auf den Bauch. Zögerlich führte Robert die Behandlung fort. Sein Patient schien jedes Interesse an Konversation verloren zu haben. In der Stille wurden die morgendlichen Geräusche in der Praxis laut. Er hörte die Schritte seiner Chefin, die die Praxis durchschritt und die kleine Küche betrat. Der Wasserkocher wurde in Betrieb genommen, das Telefon am Empfang klingelte, noch bevor sie offiziell geöffnet hatten. Die Mailbox sprang an, da ihre Empfangsdame noch nicht am Platz war. Es war kurz vor 8 Uhr, als Robert sich von seinem Patienten verabschiedete und die Küche betrat, um seine Hände zu desinfizieren. Der Duft nach Kaffee erfüllte die Luft. „Guten Morgen.“ Sylvia schlürfte aus ihrer Tasse ihr Blick war auf ihr Smartphone gerichtet. „Ist er das? Mich hätte heute schon fast ein Auto überfahren und gerade hatte ich das Ekelpaket auf der Liege!“ „Ich habe dir gesagt, dass das Radfahren im Winter gefährlich ist.“ „Die Autofahrer sind das Problem, nicht mein Fahrrad. Und außerdem fahre ich solange, bis es nicht mehr geht. Vielleicht ist es ja mein letzter Radfahrwinter“ Robert trocknete sich die Hände ab und schenkte sich ebenfalls eine Tasse Kaffee ein. Als er sich an den Tisch setzte, spürte er Sylvias Augen auf sich ruhen. „Hattest du einen Schub?“ „Am Samstag.“ Er nickte, stierte hinab in seine Tasse. „Und wie gehts dir? Willst du heute lieber...“ „Mir gehts. Ich will nicht drüber reden.“ „Robert, MS ist …“ „Ein Arschloch. Und eines über das ich nicht mehr reden werde, als es unbedingt nötig ist.“ „Von mir aus, aber...“ Die Türglocke bimmelte. „Mein nächster Patient ist da.“ Robert erhob sich und verließ die Küche, ehe seine Chefin ihn mit dem Konfrontieren konnte, dass er zu verdrängen versuchte.

 

DIENSTAG 7:15 Uhr

Wie jeden Morgen parkte Dr. Elena Patell ihren Wagen an der Zapfsäule, die so weit wie möglich von der Gruppe Arbeiter entfernt war. Es waren ausschließlich Männer, die dort in ihren Arbeitsuniformen standen und Kaffee tranken. Über ihren Köpfen waberten Rauch- und Atemwolken umher, an diesem kalten Morgen. Sie lachten, während sie sich unterhielten. Die Wagen einer Dachdeckerfirma und einer Malerwerkstatt standen ganz in der Nähe. Sie schienen Elena wie jeden Morgen nicht zu bemerken oder ihr keine Beachtung zu schenken und doch waren sie ihr nicht geheuer. Die Schmerzen in ihrer operierten Schulter erinnerten sie immer wieder daran, wozu Männer imstande waren.

Wie jeden Morgen kaufte sie sich einen Kaffee und bezahlte ihn Bar. Die Tankstellenplörre schmeckte ihr nicht unbedingt, doch solange sie zuhause noch keine Kaffeemaschine hatte, blieb ihr nichts anderes übrig, um vor der Arbeit eine Dosis Koffein zu bekommen. Und sie hatte nicht vor, sich für ihre kleine Wohnung eine Kaffeemaschine zu holen. Sie hatte nicht vor, lange dort zu wohnen. Sobald sie ihre Kinder wiederhatte, würde sie hier verschwinden.

Wie jeden Morgen war sie in Gedanken bei Jenny und Cedric und fragte sich, ob die beiden bereits im Schulbus waren. Der Privatdetektiv, den sie engagiert hatte, würde es ihr heute Nachmittag mitteilen können. Sie trank einen Schluck von ihrem Kaffee und trat hinaus auf die Tankstelle. Ihr Blick fiel auf den rauschenden Verkehr auf der Straße und sie entdeckte den Radfahrer, der sie gestern Morgen angeschrien hatte, der an der Tankstelle vorbeiradelte. Allein bei der Erinnerung an sein Geschrei, begannen ihre Handflächen zu schwitzen. Dann sah sie eine schwarze Limousine auf das Tankstellengelände fahren und vor der Werkstatt links von ihr halten. Eine Mechanikerin mit kurzen Haaren und Ölflecken auf ihrem Overall, schien den Wagen in Empfang zu nehmen. Eine Frau im Hosenanzug, mit langen, braunen Haaren stieg aus. Ihr Gesicht kam Elena vage bekannt vor. Die Frau sah jedoch nicht in ihre Richtung. Sie ging auf die Mechanikerin zu und verschwand mit ihr in der Werkstatt.

Elena stieg in ihren Wagen und startete den Motor. Sie hatte eine halbstündige Fahrt zur Arbeit ins Krankenhaus vor sich, aber erst als sie vor dem Krankenhaus parkte, fiel ihr wieder ein, woher ihr das Gesicht der Frau bekannt war. Sie parkte direkt vor einem durchnässten Wahlplakat mit dem Gesicht der Frau darauf, dass sie aufforderte, am Wochenende für sie zu stimmen.

Ihre erste Patientin in der Klinik für Frauenheilkunde war eine junge, blonde Frau, die sich an ihre Handtasche klammerte, als sie jenseits ihres Schreibtischs Platz nahm. „Sie sind hier, um eine Abtreibung vornehmen zu lassen?“ Die Frau mühte sich zu einem Nicken. In ihren Augen glitzerten Tränen. „Ist alles in Ordnung?“ Wieder ein Nicken. „Wir können den Termin gerne verschieben, wenn Sie …“ „Nein, nein, ich muss das heute erledigen.“ Elena zog ihre Augenbrauen nach oben. „Sie müssen?“ Elena warf einen Blick in die Akte der Frau. „Wenn ich richtig sehe, haben Sie noch etwas Zeit diese Entscheidung zu treffen. Wir müssen heute gar nichts tun.“ „Ja, aber … mein Freund, der Vater des Kindes …“, die junge Frau brach ab. Elena sah nach dem Vornamen der Patientin. „Ich nehme an, er möchte das Kind nicht, Lina?“ Sie schüttelte den Kopf, die Tränen strömten über ihre Wangen. „Er ist Fußballprofi und das … ein Kind passt jetzt nicht in seine Karriereplanung, deshalb …“ „Sie können das Kind auch ohne ihn großziehen.“ „Ohne sein Geld?“ „Vieles ist möglich.“ Elena reichte der Frau ein Taschentuch. Sie begann sich die Augen abzutupfen. „Haben Sie Kinder?“

Die Frage versetzte Elena einen Schlag in die Magengrube. Wie sie das immer tat. „Ja. Zwei.“ Sie stand abrupt auf, um das Thema zu wechseln, wie sie das immer tat. Ehe die Schuldgefühle ihren Magen zersetzen konnten. „Wissen Sie was? Ich mache Ihnen einen neuen Termin in zwei Wochen aus. Dann können Sie bis dahin nochmal in sich gehen. Und sich fragen, was Sie wollen.“ Elena verließ ihr Behandlungszimmer. Sie machte sich auf den Weg zur Anmeldung. Ein Mann stand am Anmeldetresen, seine Schuhe auf Hochglanz poliert, die Unterarme im maßgeschneiderten Anzug auf den Tresen gebeugt, seine dröhnende Stimme pflaumte die Empfangsdame an, ihn zur Ärztin zu lassen.

Elena verharrte. Sie erkannte ihn sofort. Ihr Ex-Mann Thomas Krupp richtete sich auf, als die Augen der Arzthelferin an ihm vorbei glitten, zu Elena.

„Sieh mal einer an.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. Arme, die auf sie eingeprügelt hatten. Wenn das Essen kalt gewesen war, damals, beim Kartenspiel, als sie auf die Regeln bestanden und er verloren hatte. Er hatte an Gewicht zugenommen. Seine Augen funkelten feindselig. Seine Zähne fletschten sich, wie die eines Raubtiers. Elena wollte umdrehen, sie wollte weglaufen und Schutz suchen, so wie sie es getan hatte, vor zwei Jahren.

Doch sie blieb stehen und versuchte das Zittern ihrer Knie, ihren flacher werdenden Atem, zu verbergen.

„Thomas. Was willst du hier?“

„Was ich hier will? Ich denke, die Frage sollte eher lauten, was du hier willst?“

„Ich arbeite hier und du hältst den Betrieb auf.“

„Oh, du arbeitest hier? Stell dir vor, dass wusste ich. Eine kleine Recherche im Internet und dein Name sprang mir entgegen. Fachärztin im medizinischen Zentrum für Frauenheilkunde.“ Er sprach das Wort aus, als wollte er ausspucken.  

„Und wieso suchst du nach mir?“

„Lassen wir das.“ Er kam näher auf sie zu, senkte seine Stimme. „Was willst du hier?“

Er hatte Mundgeruch. Und er roch nach diesem scharfen Parfüm, das ihr damals den Atem geraubt hatte, wenn er sie verprügelt hatte. Doch sie zwang sich, nicht zurückzuweichen. „Das geht dich überhaupt nichts mehr an. Wir sind geschieden.“

Er schnaubte. Fletschte wieder seine Zähne. „Die Kinder haben dich längst vergessen. Du hast zwei Jahre nicht an ihrem Leben teilgenommen. Sie wissen schon gar nicht mehr, wie du aussiehst. Ich habe ihnen gesagt, du bist gestorben.“ Er presste die Worte so leise zwischen seinen Zähnen hervor, dass Elena ihn kaum verstehen konnte. Und doch schlugen die Worte ein. Elena spürte, wie sie am ganzen Körper zu zittern begann.

„Das werden wir ja sehen.“

„Was soll das heißen?“

„Du verschwindest jetzt besser von hier.“

Er grunzte. „Glaub ja nicht, dass du mir die Kinder wegnehmen kannst. Du bist abgehauen. Niemand wird dir die Kinder geben.“

„Du hast mir keine andere Wahl gelassen, als abzuhauen. Und jetzt verschwinde von hier. Oder ich lasse die Polizei rufen.“ Elena schaffte es, ihre Stimme so weit zu erheben, dass die Empfangsdame sich erhob, das permanent klingelnde Telefon ignorierend.

„Wie du meinst. Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Du hattest deine Chance.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und stampfte aus der Praxis.

Elena sah ihm nach. Und sie wusste, dass von nun an die Zeit lief. Gegen sie und ihren Plan.

 

MITTWOCH 7:18 Uhr

 

„Ich dachte, wir waren gestern Abend verabredet.“ Laura Teeger sprach leise, als sie zögerlich die Werkstatt neben dem Tankstellenhäuschen betrat. Die Stimmen und das Gelächter der Gruppe Dachdecker waren verstummt, als sie mit ihrem Kaffeebecher und der Tüte mit ihrem Brötchen darin, den Verkaufsraum verlassen hatte. Sie hatten sie erkannt. Und wie könnten sie auch nicht? Sie standen direkt neben einem Wahlplakat von ihr. Und sie hatten sie bereits gestern zum Reifenwechsel kommen sehen. Sie würden sich fragen, was sie heute schon wieder in der Weststadt wollte, zumal ihr Wagen an einer Zapfsäule stand. Dennoch trat sie über den ölverschmierten Werkstattboden auf sie zu. Melanie Cooper war alleine. In einem dreckigen Arbeitsoverall und Arbeitsstiefeln stand sie unter einem Wagen auf der Hebebühne und leuchtete die Karosserie von unten mit einer Taschen­lampe ab. Außer einem halbgaren Blick über ihre Schulter, zeigte sie keine Anzeichen, Lauras Anwesenheit überhaupt bemerkt zu haben. „Ich wusste nicht, ob Laura Teeger oder Laura Teeger die Politikerin auf mich wartet.“ „Melanie, bitte.“ „Und ich hatte nicht den Eindruck, dass die Politikerin mich sehen will.“ Sie ging zu einem Klemmbrett und schrieb etwas auf. Sie würdigte Laura noch immer keines Blickes und dennoch verriet jede Faser ihres Körpers, dass sie sie vermisste. Eine Gewissheit, die Lauras Herz schwer machte. Die sie an all die unausgesprochenen Erwartungen erinnerte. Sie wollte die Werkstatt verlassen und in ihr Büro fahren, allerdings wusste sie, was es für Melanie heißen würde, wenn sie jetzt ging. „Es gibt keine zwei Lauras. Es gibt nur die Eine. Und du kennst sie.“ Laura wusste, dass sie flüsterte. Aber es war besser, als es gar nicht auszusprechen. „Ach ja? Und was war das gestern?“ Endlich sah Melanie sie an. Mit diesen dunklen, undurchdringlichen Augen, die sie vom ersten Tag an in ihren Bann gezogen hatten. „Ich… Das …“ Laura senkte ihre Augen, wohlwissend, dass es keine Entschuldigung gab, die Melanie zufriedenstellen würde. „Was? Es war die Idee von deinem Wahlkampfteam?“ „Ja. Du kennst mich doch! Ich will vor halb 10 am Morgen überhaupt keine Termine haben. Und schon gar keine Wahlkampftermine im Nieselregen an einer Tankstelle.“ „Aber der Fototermin steht für morgen, oder?“ „Ja, ich...“ „Du konntest es nicht verhindern.“ Melanie schnaubte, legte das Klemmbrett wieder ab und griff zur Taschenlampe. „Du willst gewählt werden und da gehören diese Termine dazu, damit du den Wählern im Ge­dächtnis bleibst. Und wenn du dabei noch an der Tankstelle abgelichtet wirst, an der du dir fast jeden Morgen wie das gemeine Fußvolk dein Brötchen holst, dann sammelst du Punkte.“ „Ich weiß, dass das... Ich muss dieses Spiel mitspielen. Ich will etwas verändern, ich will gestalten. Aber dafür muss ich gewählt werden.“ Melanie stand wieder unter dem Auto, als sie erwiderte: „Richtig. Und wenn deine konservativen Wähler erfahren, dass du eine Frau liebst - eine Mechanikerin - dann wählen sie dich nicht. Ich habe schon ver­standen. Aber wann kommst du hierher und fragst mich, wo ich gestern Abend war?“ Lauras Blick fiel aus dem geöffneten Werkstatttor. Ein grauer, windiger und nasser Novembertag löste sich allmählich aus der Morgendäm­merung. Ein Fahrradfahrer fuhr an der Tankstelle vorbei. Es schien derselbe wie jeden Morgen. Ein Mann, dem der Klimawandel wichtig war. Ihre Gedanken wollten zu ihrer Wahlkampfagenda abschweifen. Laura trat einen Schritt auf Melanie zu. „Du bist mir wichtiger als meine Wähler.“ „Ja, das habe ich gemerkt.“ „Melanie, ich...“ „Nein, lass es einfach. Komm morgen mit deiner Wahlkampftruppe hierher und lass dich ablichten, wenn du es brauchst. Aber

ich muss mich hier jetzt auf meine Arbeit konzentrieren.“ Laura bewegte sich nicht vom Fleck. Doch Melanie würdigte sie keines Blickes mehr. „Ich wünsche dir einen schönen Tag.“ Ihr Wunsch blieb unerwidert, als sie langsam die Werkstatt verließ. Der Regen hatte zugenommen, prasselte auf das Tankstellendach und den Asphalt, auf dem der morgendliche Verkehr dahinrollte. Ein schwarzer SUV hielt an einer Zapfsäule, eine dunkelhäutige Frau stieg aus und füllte Benzin in den Tank. Ein weiterer Wagen fuhr auf das Gelände und hielt gegenüber dem SUV. Doch niemand stieg aus, bis Laura vom Gelände fuhr. Sie hatte es nicht weit bis zu ihrem Büro, doch sie wünschte sich an diesem Morgen der Weg wäre länger. Melanies Blick hing ihr noch in den Knochen und sie hatte nicht einmal von ihrem Brötchen abgebissen, als sie ihrem Wahlkampfleiter in die Arme lief. „Die Gala heute Abend hast du auf dem Schirm, oder?“, fragte er, als er ihre Bürotür hinter sich schloss. Laura hängte ihren Mantel an den Garderobehaken. „Heute Abend?“ „Ja, die Gala zu Ehren der Tierschutzvereine. Begleitung wird erwartet. Ich habe schon mit dem diskreten Begleitservice vom letzten Mal ...“ „Reicht es nicht, wenn ich da alleine hingehe und Hände schüttelte?“, seufzte Laura, als sie sich hinter ihren Schreibtisch fallen ließ und endlich einen Schluck von ihrem mittlerweile kalten Kaffee nahm. Jörg setzte ein entschul­digendes Lächeln auf und zuckte mit den Achseln, während er auf seinem Tablet herumdrückte. „Aber sie schicken dir Michael, wie beim letzten Mal. Du weißt schon, deinen Lebensgefährten.“ „Ich erinnere mich.“ Sie fuhr ihren PC hoch. Wenn Melanie das las, war es Wasser auf ihren Mühlen. „Die Welt wird irgendwann eine bessere Welt sein. Eine, in der auch eine Politikerin einer konservativen Partei homosexuell sein darf und trotzdem gewählt wird.“ „Ich hoffe, du hast recht.“ Und sie konnte nur hoffen, dass sie nicht als jemand gewählt wurde, der sie gar nicht war.

 

DONNERSTAG 7:30 Uhr

 

„Was soll das heißen?“ Michael Brohm verlangsamte sein Tempo auf der schnurgeraden Straße, die auf die Tankstelle zuführte. Vor ihm im strömenden Novemberregen schlich ein Fahrrad entlang. „Ich glaube, ich würde das Kind gerne behalten.“ Ihre Stimme klang zögerlich, leise. Michael spürte, wie ihm das Herz in die Hose rutschte. Sein Blick fiel auf seinen Ehering, am Finger seiner linken Hand, mit der er das Lenkrad hielt. „Ich hab extra für dich einen Termin machen lassen und jetzt sagst du...“ „Ich war ja bei dem Termin. Und ich habe mit der Ärztin geredet und irgendwie... Ich wollte nochmal drüber nachdenken.“ „Scheiße, ist dir klar was passiert, wenn die Presse das mitkriegt? Ich bin verheiratet und hab schon zwei Kinder! Ich...“ „Aber du hast doch gesagt du verlässt deine Frau! Wir wollten, doch...“ „Ich ertrag dich gerade nicht. Ruf mich an, wenn du wieder zur Vernunft gekommen bist!“ Er beendete das Telefonat, das über die Fernsprechanlage in seinem Wagen zu hören gewesen war. „Blöde Schlampe!“, murmelte er und trat dann hupend aufs Gas, um dicht an dem Fahrradfahrer vorbeizufahren, dem der Regen ins Gesicht spritzte. „Verpiss dich von der Straße du Lahmarsch!“ Kaum hatte er den Radfahrer überholt, musste er heftig auf die Bremse treten, um auf die Tankstelle abbiegen zu können. Michael hielt an einer Zapfsäule, sein Kopf fühlte sich heiß an, aus seinen Ohren musste es dampfen. Dabei sollte er sich heute nicht so fühlen. Heute war der Tag seines großen Triumphes! Er hatte gestern endlich mal wieder von Beginn an spielen dürfen und in der Nachspielzeit das Siegtor geschossen. Sie hatten ihn zum Man of the Match gewählt, abertausend Menschen hatten ihm zugejubelt und seinen Namen gesungen. Er war Gott! Und er würde genauso schnell von den Zeitungen zerstört werden, sollten sie erfahren, dass er seine Affäre geschwängert hatte. Michael schlug auf sein Lenkrad, ehe er sich zwang, ruhig zu atmen. Sein Blick schweifte über das Gelände der Tankstelle und blieb an einer kleinen Prozession hängen. Eine junge Frau mit einer riesigen Fotokamera um den Hals und einem Diktiergerät in der Hand, folgte einer blonden Frau, die im vage bekannt vorkam, und einem Mann, der aussah wie ihr Assistent, in Richtung der Werkstatt. Michael blieb sitzen. Es war besser er lief vor keine Kamera, wenn er wütend war. Doch er ließ sein Fenster ein Stück herunter, um die Worte zu verstehen, die die blonde Frau sprach, nachdem sie eine Mechanikerin mit kurzen Haaren aus der Werkstatt gerufen hatte. „... ich freue mich besonders meinen Wählern jemanden vorstellen zu dürfen. Das ist Melanie. Meine Freundin, meine ... Lebensgefährtin.“ „Ist das dein...?“ „Laura, das hatten wir nicht besprochen. Du ...“ Doch seine Stimme, die in dem Blitzlichtgewitter der Fotografin bereits untergegangen war, erstarb vollständig, als die beiden Frauen sich küssten. Das war die Gelegenheit für Michael an seinen Kaffee und die Titelseite des Sportteils zu kommen. Besonders der Kaffee war wichtig, um das Training gleich zu überstehen. Er eilte über den feuchten Boden und betrat das warme Tankstellenhäuschen, wo Mike, der Kassierer ihn sofort erkannte und lautstark begrüßte. „Da ist ja unser Pokalheld! Alter, was für ein sensationeller Schuss! Diesmal holen wir uns den Pott!“ „Wenn der Trainer mich weiter spielen lässt, auf jeden Fall.“ Sie begrüßten sich mit Handschlag. „Schwarzer Kaffee wie immer?“ Während Mike über das Spiel fachsimpelte, als hätte er höher gespielt als Kreisliga und dabei die Bohnen mahlte, griff Michael nach der Tageszeitung. Es spielte keine Rolle, was Mike sagte, es war der Neid und die Verehrung in seiner Stimme, auf die es Michael ankam. Und dieselbe Verehrung schlug ihm im Sportteil entgegen.

 

BOHM MELDET SICH MIT TRAUMTOR ZURÜCK

Michael begann den Artikel zu überfliegen, der bei seiner langen Verletzung anfing und über seine erstklassige Performance beim Pokalspiel am gestrigen Abend-inklusive Tor-bei Transfergerüchten um ihn landete. Angeblich war Deutschlands bester Fußballklub an ihm interessiert und bereit, ihm ein fürstliches Gehalt zu zahlen. Und wieder fühlte er sich wie am gestrigen Abend vor der Tribüne: Unbesiegbar. „Mit dem Familienauto bist du heute aber nicht unterwegs zum Training, oder?“ Mike sah aus dem Fenster, während er seinen Kaffee fertigmachte. Michael wirbelte herum, für einen Moment wie gestochen von seinen Worten. „Nein, nein, das...“ Sie schrieben über ihn als Familienvater. Erst vor wenigen Monaten war in einem Boulevardblatt eine Fotostory von ihm und seiner Familie zuhause abgebildet worden. All das bestimmte seinen Marktwert mit. Es war nicht auszudenken, was die Leute schreiben würden, würden sie herausfinden, dass er seine Affäre geschwängert hatte und die dumme Kuh das Kind behalten wollte! Er musste seinen Berater anrufen, um diese Sache ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. „Du meinst das ist dein Trainingsflitzer?“ „So in der Art.“ Michael nahm seinen Kaffee entgegen. „Ich muss los.“ Kaum stand er wieder draußen im Nieselregen, holte er sein Smartphone hervor und wählte den Kontakt seines Beraters. Ein schwarzer SUV fuhr auf das Tankstellengelände, dicht gefolgt von einem weiteren Wagen, der erst hinter dem SUV hielt und dann mit Vollgas anfuhr, als eine Frau aussteigen wollte. Die Frau begann zu fluchen, doch Michael schenkte ihr keine Beachtung. Er hatte eigene Probleme.

 

FREITAG, 7: 10 Uhr

Mit einem Kaffee in der einen Hand und der Zeitung in der anderen Hand verließ Jan Weber das Tankstellenhäuschen. Die Luft war kühl draußen, die Nikotinwolken seiner Kollegen waren gigantisch. Er nahm einen Schluck von dem heißen, bitteren Kaffee und blieb etwas abseits der anderen stehen, als er den Lokalteil überflog. Wie es nicht anders zu erwarten gewesen war, war die Titelseite voll mit dem Comingout der Politikerin. Mike an der Kasse hatte ihm bereits alles über die Mechanikerin Melanie und die Politikerin erzählt, die hier gestern einen Fototermin gehabt hatte. „Ey Professor, gib mir mal den Sportteil, wenn du gerade die Aktienkurse checkst!“ Jan reichte seinem Kollegen die gesamte Zeitung: „Brauchst du Feuer?“ „Nein, ich habe meiner Tochter versprochen aufzuhören.“ Jan ignorierte das Brummen seines Kollegen und richtete seinen Blick auf die Straße. Wie gewöhnlich war freitags weniger Verkehr. Durch den trüben, aber trockenen Morgen sah er den Radfahrer auf das Tankstellengelände fahren. Es war der Gesundheitsapostel, der bei Wind und Wetter auf seinem Drahtesel angefahren kam. Wahrscheinlich ernährte er sich auch vegan und holte sich jeden Morgen einen grünen Tee. Jemand wie er wäre ein besseres Vorbild für seine Kleine. „Das Beste was uns passieren konnte, ist dass der Bohm wieder fit ist! Ohne den würden wir absteigen“, brummte sein Kollege mit der Nase in der Zeitung. Die anderen begannen eine Diskussion über das Pokalspiel. Jan stellte seinen halbleeren Kaffeebecher ab und fummelte einen kleinen Notizblock und einen Stift aus einer seiner Hosentaschen. Gestern Morgen hatte er einen Song für seine Tochter begonnen. Ein Lied, um sie in den Schlaf zu wiegen. Und ihr zu versichern, dass er zwar am Morgen nicht da sein würde, wenn sie aufwachte, aber dennoch immer an sie dachte und sie immer liebhatte. Er starrte auf seine Reime, versuchte seinen Rhythmus zu finden. „Was machst du denn da? Einen Liebesbrief für die Kundin schreiben? Wir sind nur zum Dachdecken da, nicht zum Rohre verlegen.“ „Halt die Klappe.“ Ein schwarzer SUV fuhr vor. Im Augenwinkel sah Jan dieselbe Frau aussteigen wie jeden Morgen. Sie lief an ihm und seinen Kollegen vorbei und schien dabei wie immer einen Bogen zu laufen. Sie hielt sich für etwas Besseres und glaubte wahrscheinlich, die Flecken auf seinen Arbeitssachen könnten auf ihren schicken Mantel hüpfen. Jan richtete seinen Blick wieder auf das Papier vor sich, versuchte sich zu beruhigen und hatte doch kein weiteres Wort aufgeschrieben, bis die Fahrerin des SUV wieder herauskam. Ein weiterer Wagen war vorgefahren und ein Mann stieg aus und ging auf die Frau zu. Gedankenverloren beobachtete Jan, wie der Mann begann die Frau anzusprechen. Und dann ging alles ganz schnell. Der Mann wurde laut, fuchtelte mit seiner Hand herum. „... Anwälte machen mir keine Angst. Was für eine Mutter haut denn ab?“ „Du hättest mich umgebracht!“ „Ach ja? Wieso hast du die Kinder dann bei mir gelassen?“ Es war plötzlich still geworden um Jan herum. Seine Kollegen hatten aufgehört über Fußball zu reden und starrten die beiden an. Auch der Radfahrer sah zu ihnen und eine Mechanikerin mit kurzen Haaren. Doch keiner konnte verhindern was geschah. Der Mann holte aus und schlug der Frau ins Gesicht. Sie fiel hin. „Hey!“, rief Jan, aber der Mann schien ihn nicht zu hören. Er kniete sich auf die Frau und schlug am Boden weiter auf sie ein. Ihre Hilferufe schallten durch den Morgen. Jan sprang auf und eilte auf den Mann zu, um ihn mit einigen gezielten Griffen und Tritten von der Frau wegzuzerren. „Was soll denn der Scheiß? Lassen Sie die Frau in Ruhe!“ „Was weißt du denn schon? Nimm die Pfoten von mir!“ Der dicke Mann schlug seine Hände weg und riss seine Autotür auf. Mit Vollgas fuhr er vom Gelände. Für einen Moment stand Jan in der Abgaswolke und sah dem Wagen hinterher. Dann fiel sein Blick auf die Frau, die im Gesicht blutete und sich langsam wieder aufrichtete. „Kann mal einer einen Krankenwagen rufen?“, rief er laut. Doch die Schaulustigen verzogen sich. Der Radfahrer sprang auf sein Rad, die Mechanikerin verschwand in der Werkstatt. Seine Kollegen bewegten sich nicht vom Fleck. Nur er ging auf die Frau zu, um ihr wieder auf die Beine zu helfen und erst einmal ins Warme zu bringen.

 

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0