Von oben sahen die Häuser in der Straße aus wie Klone. Elegante Zweifamilienhäuser mit Gärten, die an Kaninchenställe erinnerten, getrennt von Auffahrten und Garagen, in denen familienfreundliche Luxuskarossen parkten. Die Weihnachtsbeleuchtung blinkte in die Morgendämmerung, erhellte die zarte Schneeschicht auf dem Asphalt. Die Straße lag still und friedlich da, sowie ihre Bewohner, die sich noch in ihren Betten räkelten und darauf warteten, dass der Tag anbrach. Ein weiterer Tag in einem Leben, das in jedem Haushalt in dieser Straße ähnlich geführt wurde. Doch für Barbara fühlte es sich an diesem Morgen nicht so an.
Sein Wecker riss sie aus dem Schlaf. Sie lag mit dem Rücken zu ihm. Paul schaltete den Wecker aus und schlug seine Decke zurück. Seit einer Ewigkeit hatte er morgens nicht mehr seinen Arm um sie geschlungen, um ihr unrasiert einen Kuss auf die Wange zu drücken. Sie wusste schon gar nicht mehr, wie es sich anfühlte, von ihm berührt zu werden. Dafür wusste sie, wie es sich anfühlte, ihn pfeifend in die Dusche im angrenzenden Bad steigen zu hören. Und sie wusste, weshalb er pfiff. Es war Freitag. Sie würde heute nicht ins Büro gehen, sondern von zuhause arbeiten. Das Wasser in der Dusche rauschte. Er würde sich rasieren und sein Aftershave würde betörend riechen. Aber nicht für sie. Barbara griff in ihre Nachtischschublade als die Tränen aus ihren Augen strömten. Die Kinder durften sie nicht so sehen. Sie musste funktionieren. Sie drückte die Pille aus dem Blister und schluckte sie hastig ohne Wasser. Dann legte sie sich auf den Rücken und wartete darauf, dass ihre Tränen versiegten und die Tablette Wirkung zeigte und sie in einen Zustand entführte, der es erträglich machte, aufzustehen und diesen Tag zu beginnen.
Der Vormittag zog an Barbara vorbei als stünde sie hinter den Vorhängen in der Küche und starrte hinaus auf die Straße. Sie brauchte lange, um das Frühstück für die Kinder vorzubereiten, als wären ihre Bewegungen durch Blei an ihren Extremitäten verlangsamt. Tim erzählte aufgeregt, was in der Schule passieren würde, seine kleine Schwester quäkte dazwischen. Barbara musste sich konzentrieren, um ihren Kindern zuzuhören. Ihre Gedanken wollten wandern, weit weg vom Esstisch, weit weg vom Hier und Jetzt, in ein entferntes, sanftes Nichts, in dem sie weder denken noch handeln musste. Dort konnte sie nur sein, dort war es so angenehm, als läge sie auf einem gigantischen Wattebausch. Paul aß hastig im Stehen, starrte auf sein Handy und spülte jeden Bissen mit Kaffee herunter. Barbara ließ ihren Blick über ihre kleine Familie schweifen, über das detailverliebt und mühsam eingerichtete Heim. Sie hatten all das aus Liebe errichtet.
„Auf gehts Großer, die Schule ruft!“ Pauls Worte schnitten durch ihre Gedanken. „Besorgst du alles für heute Abend? Oder soll ich auf dem Heimweg noch etwas mitbringen?“
„Hm?“, fragte Barbara abwesend.
„Das Essen heute Abend mit Maria und Alex.“
„Ja. Mache ich.“
Paul stutzte. „Soll ich noch etwas mitbringen?“ Barbara fühlte, wie sie in Zeitlupe den Kopf schüttelte. Paul drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, ehe er Tim ins Auto lud, um ihn zur Schule zu fahren. Barbara brach eine halbe Stunde später mit Tina auf, um sie in den Kindergarten zu bringen. Es war ein normaler Vormittag in der Straße. Autos wurden freigekratzt, ehe sie mit voll aufgedrehter Heizung über die zugeschneite Straße ihren Tag begannen. Barbara sah ihre Nachbarn aus dem Haus treten, erwiderte morgendliche Grüße. Smalltalk über die bevorstehenden Feiertage wurde ausgetauscht. Es war alles wie immer, alles ging seinen Gang. Und doch fühlte Barbara sich wie eine Außerirdische.
Der Nebel, in den sie die Tablette gehüllt hatte, ließ sie nicht los, während sie ihren Körper wie ferngesteuert durch die Gänge des Feinkostladens bewegte. Sie sah Paul vor sich, in seinem Strickpulli im Büro. Diana musste so lange um seinen Schreibtisch gestreunt haben, bis er aufgesehen hatte. Er war pflichtbewusst, schüchtern und liebevoll. Alles, was Dianas Ex- Mann nicht gewesen war. Sie musste ihn bezirzt haben mit ihren Augenaufschlägen und knappen Röcken. Vielleicht war er schwach geworden, damals nach diesem Streit am Ende ihres Urlaubs. Vielleicht hatte alles mit einem harmlosen Kaffee begonnen. Barbara räumte Antipasti und Fleisch in ihren Einkaufswagen, doch vor ihrem inneren Auge, sah sie Paul und Diana. Sie sah die beiden eng umschlungen, als wollten sie sich auffressen. Vielleicht schleiften sie sich gerade gegenseitig auf die Toilette oder in seinen Wagen auf dem Parkplatz. In ihr Familienauto. Wo sie vor ihm niedersank, um...
Barbara japste nach Luft. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie musste sich an ihrem Einkaufswagen festhalten. Ihr Blick fiel auf ihre Einkäufe. Er durfte das alles nicht wegwerfen. Ihr gesamtes Leben, das sie aus Liebe errichtet hatten. Und er würde es nicht tun. Er würde es nicht tun, wenn er sehen würde, wie sehr sie darunter litt. Sie musste ihm nur vor Augen führen, was er den Kindern antat. Das er alles zerstörte, was sie aus Liebe errichtet hatten. Sie würde ihn anflehen, gleich heute Abend nach dem Essen. Barbara griff nach mehreren Flaschen Rotwein. Und schob ihren Einkaufswagen weiter.
Der Schnee rieselte vor dem Küchenfenster herab. Allmählich setzte die Abenddämmerung ein. Die Nachbarn in der Straße vollführten ihre übliche Symphonie. Die Autos kehrten zurück. Männer und Frauen kamen von der Arbeit und luden Einkäufe und oder Kinder von der Rückbank. Die Nachbarin, die ganz vorne in der Straße wohnte, ging mit ihrem Hund im Schnee spazieren. Tim und zwei Jungs in seinem Alter kickten sich einen leuchtend roten Fußball durch das Weiß zu. Die Kleine spielte im Wohnzimmer mit ein paar Bauklötzen, vom Fernseher drang das Sing-Sang ihrer Lieblingssendung. Barbaras Hände waren mit Kochen beschäftigt, mit Schnippeln und Hacken, sie schob den Braten in den Ofen und leerte die erste Flasche Rotwein. Paul liebte seine Kinder. Sie sollte ihn am Esstisch erwarten heute Abend, die Kinder bei den Nachbarn geparkt.
„Wieso sitzt du denn im Dunkeln? Und wieso ist es so ruhig hier?“, würde er fragen, während er die Haustür hinter sich schloss. Er würde lächeln, noch in seliger Erinnerung an Dianas Berührungen, doch das Lächeln würde aus seinem Gesicht tropfen, sobald er ihre Miene sah. „Was ist?“, würde er fragen, mit Angst in der Stimme.
„Du weißt genau, was ist. Wie lange geht das schon, mit dir und Diana?“ Er würde sie mit offenem Mund anstarren. Blinzeln,
„Das... Nein. Das verstehst du falsch.“
„Hast du wirklich gedacht, du kannst das vor mir verheimlichen?“
„Babs, bitte...“
„Fass mich nicht an. Wie konntest du das tun?“ Sie würde nicht weinen. In ihren Augen würde nur Ärger aufblitzen.
„Ich wollte nicht... Ich weiß auch nicht, wie es passieren konnte. Ich liebe dich.“ Er würde wimmern, betteln und flehen. Er würde den Tränen nahe sein.
„Du hast eine Stunde Zeit deine Sachen zu packen. Alles, was ich dann noch von dir finde, werfe ich auf die Straße.“
„Aber... aber die Kinder.“
„Die wirst du nie wieder sehen.“
Beim Schneiden der Zwiebeln schnitt Barbara sich in den Finger. Ein Rinnsal Blut sickerte aus ihrem Daumen. Doch sie lächelte. Der Wein ließ sie keinen Schmerz spüren.
Paul kam früher nach Hause, als sie das erwartet hatte. Aber der Wein hatte ihr jegliches Zeitgefühl genommen. Sie war gerade dabei, die Antipasti auf Vorspeisetellern zu drapieren, als er die Haustür aufschloss und die Kinder in Jubelschreie ausbrachen.
„Ich mache die Kinder bettfertig, dann kannst du dich fertig machen.“
Das war alles, was er zu ihr sagte. Barbara spürte seine Worte wie einen Stich in ihrem Herzen, der ihr jeglichen Mut nahm. Sie schleppte sich nach oben ins Badezimmer, wo sie unter der Dusche in Tränen ausbrach. Maria und Alex durften sie nicht so sehen. Maria war die größte Tratschtante des Viertels. Barbara drückte hastig eine Pille aus dem Blister und schlucke sie mit Leitungswasser hinunter, ehe sie sich die Haare föhnte und sich schminkte. Sie zog sich ihr Kleid an und gab den Kindern einen Gutenachtkuss. Als sie die Treppe hinabschritt, deckte Paul den Esstisch. Er sagte ihr, dass sie wunderschön war und küsste sie. Die Tablette erschuf eine Barriere zwischen ihnen und doch spürte sie seine Zärtlichkeiten. Es war wie die ersten Knospen nach einem strengen Winter sprießen zu sehen. Maria und Alex kamen pünktlich und brachten Wein mit. Der Alkohol und die Tablette hüllten Barbara ein, kapselten sie ab in ihrer eigenen Welt. Paul und Alex redeten über die Vorzüge und Gefahren künstlicher Intelligenz. Maria erzählte ihr vom letzten Urlaub, einem Städtetrip mit den Kindern. Barbara nickte und lächelte. Sie servierte das Essen. Paul lobte jeden Bissen. Er legte seinen Arm um sie, während er von den Aufführungen der Kinder erzählte und von ihrer Gehaltserhöhung. Als er sie erneut auf den Mund küsste, wollte Barbara Maria und Alex vor die Tür setzen und sich an ihn schmiegen, solange die Liebe aus ihm herausfloss. Sie wollte ihm und sich selbst sagen, dass sie sich geirrt hatte. Doch sie konnte die beiden nicht rauswerfen. Paul machte Kaffee und beim Verzehr diskutieren sie welchen Neuwagen Alex und Maria sich zulegen sollten.
Den ganzen Abend über sah Paul nicht einmal auf sein Handy. Sie verabschiedeten ihre Gäste, wie es im Viertel übrig war. Und Barbara fühlte sich nicht mehr wie eine Außerirdische. Sie gehörte wieder dazu. Ihr Leben gehörte wieder dazu. Sie räumten gemeinsam auf und redeten über Maria und Alex und ihre Kinder. Als Barbara nach Paul ins Bad ging, war sie überzeugt davon, dass diese Nacht anders ablaufen würde. Doch als sie aus dem Bad kam, lag er im Bett auf der Seite und tippte auf seinem Handy herum. Als sie auf die Matratze sank, legte er es hastig weg.
„Ich bin hundemüde. Schlaf gut.“ Er gab ihr einen Gutenachtkuss und löschte das Licht. Barbara drehte ihm langsam den Rücken zu. Sie hatte sich alles nur eingebildet. Er betrog sie nicht. Heute Abend war es gewesen wie immer. Sie sagte es sich immer wieder. Sie sagte es sich solange, bis ihre Ehe, ihr gesamtes Leben wieder Bedeutung hatten. Aber gerade, als sie in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf fallen wollte, hörte sie ihn wieder murmeln.
„Diana.“ Nacht für Nacht musste sie ihn im Schlaf reden hören.
„Diana. Ich liebe dich.“ Sie presste sich ihr Kopfkissen auf ihr Ohr, während ihr die Tränen in die Augen stiegen. Doch auch ohne ihn zu hören, wusste sie, an wen er dachte, von wem er träumte. Weder Alkohol noch Tabletten konnten ihr dieses Wissen nehmen.
Diana.
Diana.
Diana.
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