Ich müsste keine Schuldgefühle haben, wenn ihre Geschichte interessanter gewesen wäre. Wäre das, was sie zu mir sagte, etwas fesselnder gewesen, wäre ich einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.
Aber sie hatte noch nie ein Gespür für eine gute Erzählung. Sie fing meist mit einem Thema an und sprach dann jeden Gedanken aus, der ihr dazu in den Sinn kam, als hüpfte sie von Stein zu Stein über einen See. Und gelangte schließlich an das falsche Ufer.
An diesem Abend Anfang Dezember in der Trattoria, redeten wir zuerst über ein Buch, ehe sie auf Kinderbücher zu sprechen kam, dann auf die Bücher, die sie ihrem Sohn gerade vorlas (samt Inhaltsangabe für mich) und ehe ich mich versah, erzählte sie mir, wie unzureichend ihr Mann ihrem Sohn morgens das Schulbrot zubereitete. Sie plapperte bereits minutenlang und ihr fiel nicht auf, dass ich gar nicht mehr zuhörte. Ich nickte geistesabwesend, trank von meinem Bier und betete, dass die Pizza bald kam und ihren Redefluss erstickte.
Die Trattoria war gut besucht an diesem Samstagabend. Wir hatten nur noch einen Tisch in der Ecke bekommen, ziemlich nah an einem anderen Tisch, an dem zwei Männer und zwei Frauen saßen. Die Männer saßen mit dem Rücken zu uns, die Frauen gegenüber beugten sich so weit vor, dass ich ihre Gesichter nicht erkennen konnte, da sie nur hin und wieder zwischen den Schultern der Männer aufblitzten. Unbekümmerte Geräusche flogen durch die Luft, Stimmengewirr, italienische Wortfetzen und das Klirren von Besteck. Doch etwas an der Gestik an unserem Nebentisch fesselte mich. Es sah überhaupt nicht unbekümmert aus, wie die blonde Frau ihr Rotweinglas umklammerte und mit der anderen Hand beim Reden gestikulierte. Ihre Stimme drang an meine Ohren.
„Glaubst du das wirklich? Er fängt doch schon damit an! Er war heute Nachmittag in Giselas Buchstube und hat mir ihr zusammen problematische Titel aus dem Sortiment entfernt!“
„Das problematischste Buch bei dieser alten Ziege war mit Sicherheit ein Märchenbuch über unartige Kinder.“
„Findest du das witzig? Er wird das durchsetzen. Er wird dafür sorgen, dass in Zukunft gewisse Bücher aus der Stadtbibliothek und den Buchläden hier verschwinden, wenn er der Meinung ist, dass diese Titel unsere Kinder bedrohen.“
„Und wir alle wissen, was das für Bücher sein werden. Schließlich sollen die lieben Kinder hier nichts über Homosexuelle, Menschen mit dunkler Haut und Muslime lesen. Aber wer weiß, wo diese Zensur enden wird. Vielleicht darf irgendwann auch nicht mehr …“, pflichtete ihr die andere Frau bei, deren schwarze Haare graumeliert waren. Einer der Männer unterbrach sie.
„Ich habe nicht gesagt, dass ich mir des Problems nicht bewusst bin. Er ist der erste seiner Partei, der in ein solches Amt gewählt wurde und er wird alles daransetzen, dass er mit seiner Politik auffällt und seinesgleichen woanders in diesem Land auch gewählt wird.“
„Den Ausbau der Flüchtlingsunterkunft hat er schon gestoppt. Er baut nur die Kameras darum herum aus.“ Der zweite Mann schob sich eine Gabel Nudeln in den Mund. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, nur ein paar Bartstoppeln auf seinen Wangen, doch er kam mir seltsam bekannt vor. Er trug einen teuren Anzug.
„Damit die Menschen dort überwacht werden wie Zootiere?“, echauffierte sich die blonde Frau. Sie trank einen Schluck von ihrem Rotwein.
„Er will außerdem die marode Moschee schließen und abreißen lassen. Aber das habt ihr nicht von mir.“ Der Mann, der mir so seltsam bekannt vorkam, senkte seine Stimme.
„Sollte die nicht renoviert werden?“
„Nicht unter ihm.“ Für einen Augenblick herrschte am Nebentisch ungläubiges Schweigen. Ich spürte, wie Wut in mir hochstieg.
„Ein kluger Schachzug von ihm. Es gab Proteste, als sie damals gebaut wurde. Er wird nicht auf viel Gegenwehr stoßen, wenn er sie abreißen lässt. Muslime sind in der Minderheit. Dem Großteil wird es vollkommen egal sein.“
„Seine Wähler werden jubeln.“
„Seine Wähler sind unsere Nachbarn. Statistisch gesehen, werden eine Menge von ihnen heute Abend hier essen.“
Unwillkürlich drehte ich meinen Kopf und sah mich im Lokal um. Ich sah Familien und Paare, alles Weiße, die einen harmlosen Eindruck machten, wie sie dasaßen, aßen und lachten. Und doch sah ich wie immer einige neugierige Blicke, die sich hastig abwandten, wenn ich ihnen begegnete. Die Gruppe am Nebentisch hatte recht. Das leise Gefühl der Unsicherheit, der Bedrohung, dass ich mein Leben lang gespürt hatte und dass in den letzten Monaten zugenommen hatte, wusch durch mich hindurch, nahm mir für einen Moment jeglichen Appetit.
„Und was machen wir jetzt dagegen? Sollen wir tatenlos zusehen …“ Die Frau mit dem Rotwein wurde von dem Mann ihr gegenüber unterbrochen.
„Er wurde gewählt. Was sollen wir dagegen tun?“
„Ein Zeichen setzen.“ Der Mann in dem Anzug, der mir so bekannt vorkam, putzte sich mit seiner Serviette den Mund ab. „Ein Zeichen, das niemand in diesem Land missverstehen kann. Auch eine Katze mit neun Leben stirbt, wenn sie verdorbenen Fisch ist.“
„Soll das heißen …“
„Bringen wir ihn um.“ Am Nebentisch trat für einen Moment Schweigen ein. Mein Herz klopfte laut, ich fühlte mich wie erstarrt. Unsicher, ob ich meinen Augen und Ohren trauen konnte.
„Ist das dein Ernst?“, wisperte die schwarzhaarige Frau.
„Diese Partei ist erwiesenermaßen rechtsextrem und homophob und zehntausend andere Dinge. Jedes Mal, wenn einer von denen im Fernsehen ist, verbreiten sie Lügen. Und ausgerechnet in unserer Stadt wollen die jetzt ein Exempel statuieren? Wir werden den Spieß umdrehen.“
„Und wie willst du …“
„Sagen wir einfach, gewisse Dinge sind längst in Planung.“
„Von wem?“
„Hier ist wohl kaum der richtige Ort, um darüber zu reden“, sagte die Frau mit dem Rotwein.
Sie verstummten. Mein Mund war staubtrocken. Ich zwang mich, nicht mehr zu ihnen herüberzuschauen und mich auf die Geschichte meiner Freundin zu konzentrieren. Der Gedanke, dass diese vier Menschen am Nebentisch gerade einen Mord ausheckten, war absolut absurd. Ich war mir sicher, dass meine Ohren mir einen Streich gespielt hatten.
Die dunklen Straßen wurden von Weihnachtsbeleuchtung erhellt, als ich nach dem Essen allein nach Hause lief. Die Gruppe am Nebentisch war nicht lange nach ihrer Unterhaltung gegangen, mir hatte meine Pizza trotzdem nicht mehr geschmeckt. Ich hatte meiner Freundin gegenüber kaum ein Wort mehr hervorgebracht. Aber ich hatte ihr auch nichts von dem erzählt, was ich gehört hatte. Ich glaubte noch immer, dass der Mann in dem Anzug das nicht ernst gemeint haben konnte. Oder ich wollte es zumindest glauben.
Die Stadt sah aus wie immer, wie vor der Wahl. Luxuskarossen parkten überall dort, wo kein Baum wuchs, die Restaurants waren gut besucht, zweifellos würden sich die Gespräche um Weihnachten und Geschenke drehen. Und mir kam der beunruhigende Gedanke, dass für viele Menschen hier das Leben nach der Wahl auch genauso weitergehen könnte, wie vor der Wahl.
Vielleicht waren die meisten zu sehr mit ihren immens erscheinenden Alltagsproblemen beschäftigt, um sich darum zu scheren ob irgendwo Bücher aus dem Sortiment verschwanden und damit auch die Existenz unzähliger Menschen. Was kümmerte es die mittelalte, heterosexuelle Hausfrau, ob Bücher über homosexuelle Teenager nicht mehr zu finden waren? Es würde vielleicht ihre Tochter oder ihren Sohn kümmern, aber ihre Stimmen würden immer leiser und leiser werden, bis sie nur noch in Schatten existierten, in geheimen Bars. Wie früher.
Was kümmerte es den mittelalten, weißen, männlichen Biertrinker, dass Geschichten, die die Perspektive dunkelhäutiger Menschen auf die Welt zeigte, nicht mehr zu lesen sein würden. Es war keine Perspektive, die sie interessierte. Es war mit Sicherheit leichter, die Welt nur aus ihren Augen zu sehen. Und es würde zunehmend unwichtiger werden, sich in Menschen mit dunklerer Haut hineinzuversetzen, zu verstehen wie es war, in diesem Land nie wirklich dazuzugehören und immer in die eine oder andere Ecke abgestempelt zu werden. Ein Gefühl der Angst überkam mich, beim Gedanken daran, dass es wieder vollkommen akzeptiert sein könnte, mich zu beleidigen oder mich für bestimmte, bessere Jobs überhaupt nicht in Betracht zu ziehen, weil ich immer hervorstechen und niemals reinpassen würde. Nach deren Meinung.
Und ganz sicher würden die wenigsten in dieser Stadt in ihrem Alltagsstress innehalten und sich fragen, ob es richtig war, ein Gotteshaus abzureißen, das nicht ihres war und das zu einer Religion gehörte, die sie nicht verstanden und nicht verstehen wollten. Als gäbe es daran etwas besonderes zu verstehen. Als wäre sie nicht wie jede andere Religion. Ich war nicht religiös und mir kam jede Religion mit ihren Regeln und Geboten irgendwie merkwürdig vor. Aber sollte nicht jeder Mensch das recht haben, in seiner Religion Trost und Hoffnung zu finden, wenn er das wollte?
Ich ging weiter durch die Kälte und mir kam der Gedanke, dass ich vielleicht wie die anderen wäre, wenn ich wie die anderen wäre. Vielleicht würde es mich auch nicht sonderlich interessieren, vielleicht würde ich die Gefahr nicht sehen, vielleicht wäre ich auch zu bequem. Die Wahlplakate hingen noch. Und es dauerte nicht lange, bis ich an einem Plakat der selbsternannten Katze vorbeikam. Ich blieb stehen. Sein Gesicht blickte ernst und entschlossen auf mich herab. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, als wollte er zu mir sagen: Pass bloß auf.
Die Kälte schien zuzunehmen, als hätte mir der Wind die Jacke aufgerissen. Und plötzlich spürte ich Wut in mir aufsteigen. Jedes Mal, wenn ich vor der Wahl an einem seiner Plakate vorbeigekommen war, hatte ich den Impuls gespürt, dass verdammte Ding herunterzureißen. Und auch jetzt, wo er längst gewählt worden war, wollte ich sein Gesicht zerfetzen und drauf herumtreten. Wenn er mich hassen konnte, konnte ich ihn auch hassen. Es war beruhigend zu wissen, dass Menschen in dieser Stadt gab, wie diese vier Menschen am Nebentisch in der Trattoria die ihn auch hassten, obwohl sie keiner Minderheit anzugehören schienen. Ich beschloss an diesem Abend nicht weiter über die Worte am Nebentisch nachzudenken. Ich ließ mich nur von dem Gefühl leiten, nicht allein zu sein, als ich an dem Wahlplakat vorbeiging.
Die Katze, die sich so nannte, weil sie glaubte, neun Leben zu haben, nach all den Widerständen und unberechtigten Anfeindungen, die sie überstanden hatte, schien mir nachzublicken.
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