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Die Wahl - Teil 2

Am zweiten Adventswochenende überzog eine zarte Schneeschicht die Dächer und Straßen der Stadt. Auf der Instagram Seite der Katze wurde verkündet, dass es im Jugendhaus am Waldrand in Zukunft keine Veranstaltungen mehr geben würde, die nicht den Werten und Normen unserer Gesellschaft entsprachen. Eine Freundin schickte mir das weiter. Ich würde niemals auf seine Seite klicken und mir diesen Unsinn ansehen. Aber ihre Nachricht hatte dennoch ausgereicht, um mich zu ärgern. Eine Recherche auf der Seite der Jugendberatung und der Tanzschule, die regelmäßig im Jugendhaus mit Veranstaltungen zu verschiedenen Themen und Kursen vertreten gewesen waren, verriet mir, dass ihnen das Geld gekürzt worden war.

Gleichzeitig fand ich ein Video, das weiße Jugendliche im Jugendhaus beim Singen eines ausländerfeindlichen Liedes zeigte. Mir wurde eiskalt, als ich es sah. Die Katze verlor keine Zeit. Die Bedrohung kam mir so nah vor, als würde sie mir bereits in den Nacken atmen. Ich fühlte mich so wütend und hilflos zugleich, dass ich nicht einmal sagen konnte, dass ich Angst hatte. Ich kam mir ohnmächtig vor, als ich meine Schwester und ihren Mann besuchte.

Meine fünfjährige Nichte bestand darauf, dass ich ihr beim Ausmalen eines Tierbildes half, während meine hochschwangere Schwester auf der Couch neben uns döste. Mein Schwager Julian, ein weißer Polizist, schaute Fußball. „Wie läuft es denn in der Schule?“, fragte er mich seufzend, als sein Team einen Elfmeter verursachte und er offensichtlich nicht hinschauen wollte.

„Ich bin genauso froh wie meine Schüler, wenn endlich Weihnachtsferien sind.“

„Das kann ich mir vorstellen. Hast du noch Probleme mit diesen Chaoten?“

Ich sah auf und blinzelte verwundert. Mir war nicht klar, wen er mit Chaoten meinte. Mir war nicht einmal klar, ob Chaoten das richtige Wort war. „Du meinst die beiden weißen Jungs, die sich geweigert haben mit dem schwarzen Jungen und dem muslimischen Mädchen die Gruppenarbeit zu machen?“

Julian nickte nur.

„Das sind Kinder. Wenn die sich so aufführen, dann haben sie das von ihren Eltern gelernt. Das sind keine Chaoten.“

„Du weißt doch, was ich meine.“

Ich zwang mich, meinen Ärger über diesen Satz herunterzuschlucken. Wie oft hatte ich das schon gehört? Du bist nicht gemeint. Das sollte doch keine Beleidigung sein. Und am liebsten hätte ich jedes Mal gesagt, dass ich nicht weiß, was gemeint ist. Und dass allein diese mangelhafte Fähigkeit zum Perspektivwechsel eine Beleidigung war. Die Erkenntnis, das noch nicht mal Julian in der Lage war, die Gefahr zu erkennen, machte mich für einige Augenblicke sprachlos.

„Ist alles in Ordnung?“

„Nein, seit der Wahl ist nichts mehr in Ordnung.“

Der Sessel quietschte als Julian sich aufrichtete. „Du brauchst dir keine Sorgen machen. Die Leute werden verdammt schnell kapieren, dass der Kerl überhaupt nichts draufhat und ihn bei der nächsten Wahl dahinzurückschicken, wo er hingehört.“

Ich hörte mich schnauben. „Glaubst du das wirklich? Dieselben Leute, die seine Lügen und die seiner Partei gefressen haben, sollen ihn wieder abwählen? Die stehen auf das, was er sagt und das, was er tut.“

Julian schüttelte den Kopf. „Das vergeht. Die letzten Jahre waren nicht einfach mit all den Krisen und Unsicherheiten. Er hat das gesagt, was sie hören wollten. Er hat ein Gefühl von Sicherheit vermittelt und …“

„Mir hat er kein Gefühl von Sicherheit vermittelt. Und den beiden auch nicht“, erwiderte ich und deutete mit meinen Augen auf meine Schwester und meine Nichte.

Julian seufzte. „Ja, ich weiß. Aber du darfst das Vertrauen in die Demokratie nicht verlieren. Er wird dieses Amt nicht lange haben. Da bin ich mir sicher.“

„Selbst wenn du recht hast, kann er trotzdem einen riesigen Schaden anrichten. Mit jeder öffentlichen Rede, mit jeder Änderung, mit jeder Aktion wie diesem Bücherschwachsinn.“

„Das kann man alles rückgängig machen.“

„Nein, man kann nicht alles rückgängig machen.“ Ich spürte wie mir heiß wurde. Ich musste mich zwingen, tief ein- und auszuatmen, um meine Stimme nicht vollständig entgleisen zu lassen. Ich wollte vor meiner Nichte nicht schreien, ich wollte ihr keine Angst machen. Sie würde diese Angst noch früh genug am eigenen Leib spüren. Spätestens, wenn sie in die Schule kam und sich an die Blicke gewöhnen musste. Und das, obwohl sie hier geboren war und nie einen anderen Pass besitzen würde.

„Er gibt einer gewissen Gruppe weißer Menschen wieder das Gefühl eine Art exklusive Oberschicht zu sein, die das Recht hat, andere Menschen zu verachten und ihnen Vorschriften zu machen. Man kann nicht rückgängig machen, wenn Eltern ihren Kindern wieder das Hassen beibringen.“

„Die Demokratie wird das wieder richten.“

„Wie denn, wenn die Mehrheit offensichtlich seine Meinungen gut findet?“

„Es war nur eine Wahl. Es wird wieder eine geben.“

„Und was, wenn sich nichts ändert? Es wird doch nur schlimmer. Kriegst du nicht mit, was passiert? Wir sind doch schon mittendrin.“

„Beruhig dich. Er wurde nicht zum Bundeskanzler gewählt. Er ist nur ein kleines Licht in einer noch nicht mal mittelgroßen Stadt.“

„Ich wünschte trotzdem, irgendjemand würde ihn …“ Ich sprach den Satz nicht zu Ende. Vielleicht war ich über mich selbst schockiert. Vielleicht war es Julians schockierter Gesichtsausdruck, der mich zum Schweigen brachte.

„Ich möchte nicht, dass du so etwas vor meiner Tochter sagst.“ Seine Stimme war leise. Doch die Kleine schien uns überhaupt nicht zu beachten. Sie malte seelig vor sich hin. „Ehrlich gesagt, will ich so etwas nie wieder von dir hören. Ich bin Polizist. Es ist meine Aufgabe Leben zu schützen. Und zwar jedes.“

„Die Katze und ihre Leute sagen nichts anderes.“

„Wir sind aber nicht wie die.“

„Jetzt tu nicht so, als hätte ich mich schon strafbar gemacht.“

„So etwas sagt man trotzdem nicht.“ Er sah wieder auf den Fernseher.

Für eine Weile wurde es still zwischen uns. Ich half der Kleinen beim Ausmalen, doch in Gedanken war ich wieder bei dem Gespräch, das ich in der Trattoria mitangehört hatte. Ich hatte es nicht ernst nehmen und vergessen wollen. Doch es saß wie eine eisige Hand in meinem Nacken. Eine eisige Hand, die nach meinem Kinn griff. Ich öffnete den Mund.

„Was wäre, wenn ich andere Leute so etwas ähnliches hätte sagen hören?“

„Wie meinst du das?“ Abgelenkt von dem Spiel schien er nicht sofort zu wissen, wovon ich sprach.

„Mal angenommen, ich hätte gehört, wie andere Leute ähnlich wütend wie ich sind. Und ähnliche Sachen sagen.“

Julian drehte mir den Kopf zu. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Hast du das?“

Ich wich seinem Blick aus. „Nein, ich frage nur. Es … Fändest du es verwerflich, wenn ich so etwas nicht … irgendwo melden würde?“

„Ja, das fände ich.“ Seine Antwort war eindeutig. Sie war mir zu eindeutig. Und zu schnell gekommen.

„Selbst, wenn ich nicht mal wüsste, ob diese Leute das ernst gemeint hätten?“

„Ich glaube, du wüsstest sehr genau, ob das jemand ernst meint oder nicht.“

„Ich bin keine Polizistin.“

„Das musst du auch gar nicht.“

„Vielleicht kenne ich diese Leute ja gar nicht persönlich, sondern war nur zur falschen Zeit am falschen Ort und habe etwas gehört, dass mich nichts angeht?“

Als er nicht antwortete, sah ich auf. Sein Blick durchbohrte mich prüfend. „Willst du mir etwas sagen?“

Ich hielt seinem Blick stand und sagte entschieden. „Nein.“

 

Am dritten Adventswochenende fiel Schnee auf den kleinen Weihnachtsmarkt im Park. Julian und meine Schwester waren zu ihrem letzten Urlaub zu zweit vor der Geburt aufgebrochen und hatten mich gebeten, auf die Kleine aufzupassen. Keisha war begeistert über meine Idee auf den Weihnachtsmarkt zu gehen. Die Lichter, die Gerüche und die Musik faszinierten sie. Am meisten aber wurde sie von dem kleinen Karussell in den Bann gezogen. Sie drehte mehrere Runden auf einem Weihnachtsmannschlitten, ehe ich sie in Richtung der Crêpes lotsen konnte.

Wir nahmen auf einer Bank Platz, wo sie glücklich in den Teig biss und sich ihren Mund mit Schokolade vollschmierte. Ich nippte von meinem Glühwein und ließ den Blick über den Weihnachtsmarkt schweifen. Es waren viele Besucher hier. Dick eingepackt schlenderten sie zwischen den Ständen umher. Ich war daran gewöhnt, mich umzusehen und zu wissen, dass ich herausstach. Aber an diesem Tag wurde es mir wieder ganz besonders bewusst. Die anderen Besucher waren einheitlicher weiß als in den letzten Jahren, die Blicke gingen öfters in unsere Richtung. Es schien mir fast, als würden sich alle die aus dieser Menge auch herausstechen könnten, schon gar nicht mehr her trauen. Die Kirche hatte einen Stand, das Schwimmbad, die Feuerwehr. Aber dort, wo letztes Jahr noch der gut besuchte Stand eines asiatischen Kampfsportvereins gestanden hatte, klaffte eine Lücke. Auch der Stand des Tanzvereins mit seinen Hip-Hop-Kursen fehlte, an dem ich mit vielen meiner Freunde, die aussahen wie ich, letztes Jahr noch Glühwein getrunken hatte. Ich wusste nicht, ob sie dieses Jahr keinen Stand hatten betreuen wollen oder ob ihnen keiner genehmigt worden war. Aber für mich lief beides auf dasselbe raus.

„Ach, der Herr Bürgermeister! Darf ich Ihnen einen Glühwein spendieren?“ Die Stimme einer Frau hinter mir, ließ mich erschrocken zusammenfahren. Wir saßen direkt vor dem Stand des Turnvereins, an dem sich eine kleine Traube gebildet hatte – eine Traube um die Katze. Ich erkannte seine spitze Nase, das graue Haar und die dünnen Lippen. Er war von zwei breitschultrigen Männern umgeben. Er beachtete mich nicht, während er ein Gespräch mit der älteren Dame begann, die so harmlos aussah. Und doch spürte ich sofort Angst in mir. Und Wut. Ein Teil von mir, wollte ihm sagen, dass er seinen einseitigen Weihnachtsmarkt für sich haben konnte, ein anderer Teil von mir, wollte ihn zwingen mich anzusehen. Ich wollte ihm sagen, dass er kein recht hatte, mich zu verurteilen.

Doch ich tat nichts.

Ich saß nur da, wie gelähmt und sah schockiert zu, wie er von den Leuten begrüßt wurde. Sie lächelten, schüttelten ihm die Hand und suchten das Gespräch mit ihm. Ich wollte nur noch weg. Aber Keisha knabberte noch am letzten Rest ihres Crêpes.

„Beeil dich mein Schatz“, flüsterte ich, plötzlich nur noch in Eile wegzukommen. Ich hob meinen Kopf, als könnte sich jederzeit ein Mob um uns schließen.

Und da sah ich ihn.

Ich erkannte ihn sofort wieder. Es war der Mann aus der Trattoria, der den teuren Anzug getragen hatte. Der es gesagt hatte. Er ging direkt auf uns zu, den Blick auf die Katze gerichtet. Ehe ich begreifen konnte, was vor sich ging, zog er etwas aus seiner Manteltasche. Es war eine schwarze Pistole. Mein Kopf war wie leergefegt. Es geschah alles so schnell und doch sah ich es in Zeitlupe ablaufen. Ehe der Mann aus der Trattoria die Pistole anheben konnte, war einer der breiten Kerle neben ihn gesprungen und riss an seinem Arm. Sie lieferten sich ein Handgemenge.

Und dann knallte es.

Ein Schuss hatte sich gelöst und löste für einige Wimpernschläge Totenstille aus. Dann fingen alle an zu schreien. Einige Menschen rannten panisch davon, andere starrten wie festgefroren in unsere Richtung. Ich hatte das Gefühl, das alle mich anstarrten. Ich sah an mir hinab und entdeckte Blut auf meiner Hand und meinem Ärmel. Ich dachte, ich sei getroffen, doch ich spürte keinen Schmerz. Erst als ich die panischen Rufe nach einem Notarzt hörte, sah ich zu Keisha.

Sie saß nicht mehr neben mir. Ihr halb aufgegessenes Crêpes lag neben mir auf der Bank. Sie lag auf dem Boden davor in einer Blutlache.

 

Es gibt Dinge auf dieser Welt, die man nicht kommen sieht. Dinge, auf die man sich nicht vorbereiten kann. Dazu zählt, stundenlang in einem Wartebereich im Krankenhaus ausharren zu müssen, während Ärzte um das Leben eines kleinen Kindes, meiner Nichte, kämpfen.

Ich bin mir sicher, dass ich immer noch unter Schock stehe. Meine Schwester ist zusammengebrochen, also haben sie sie auf Station gebracht und ihr ein Mittel gespritzt. Julian sitzt neben mir, blass und schweigend. Er hat mich seit Stunden nicht angesehen. Er ahnt etwas.

Ich bin mir sicher, dass ich immer noch unter Schock stehe, aber ich beginne zu begreifen. Dass ist es, was die Angst aus uns macht. Auf beiden Seiten. Sie macht uns zu Monstern, die sich in die Ecke gedrängt fühlen und glauben ihr eigenes Recht durchsetzen zu müssen, ohne Rücksicht auf Verluste. Ich war überzeugt davon, im Recht zu sein, als ich Julian und auch sonst niemandem, von dem Gespräch in der Trattoria erzählt habe. Ich hätte mich als Verräterin gefühlt. Ich war überzeugt davon, dass Julian mich nicht verstehen könnte, weil er niemals in meiner Haut stecken wird.

Ich war wie die anderen.

Aber der Hass der anderen, darf nicht mein Hass werden. Die Angst der anderen, darf nicht meine Angst werden. Es fühlt sich so an, als habe ich in den letzten Wochen seit der Wahl genauso empfunden, wie die Leute, die mich grundlos hassen. Ich habe einen Einblick in ihr Innenleben bekommen. Ich habe in derselben Hölle gelebt wie sie.

 

Wozu hat es mich getrieben?

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